© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Haben wir noch ein Recht auf Leben?
Lebensrecht: Die Verfassung garantiert es, die Verfassungswirklichkeit kennt viele „Aber“
Christian Rudolf

Umwelt- und Klimaschutz stehen gegenwärtig hoch im Kurs. Die Bundesregierung behauptet eine „Klimakrise“. Eine Bewegung der moralischen Beunruhigung erfaßt Teile der Gesellschaft. Und treibt bisweilen seltsame Blüten: Schon gibt es das Phänomen #Birthstrike, den absichtlichen Verzicht auf Nachwuchs um des Klimas willen. Die „Klimakrise“ ist wenig faßbar und bleibt in ihrer globalen Dimension abstrakt, und umstritten ist, ob es sie überhaupt gibt. Ganz konkret dagegen ist das Kind, das empfangen, doch nicht zur Welt kommen durfte und der Schwerkranke, der nicht weiter ernährt wurde. Das Recht auf Leben für einen jeden Menschen steht nicht so sicher und unangefochten da, wie man meinen könnte. Aber entweder gibt es den Lebensschutz ganz oder gar nicht. Auf diesem Feld ist ein von Mitmenschen gemachter „Klimawandel“ für das Leben dringend geboten. 





Abtreibung 

Die Zahl der vorgeburtlichen Kindstötungen stagniert in Deutschland auf hohem Niveau. Auch wenn das Statistische Bundesamt einen 0,2-prozentigen Rückgang gegenüber 2017 ermittelt hat, so wurden in Deutschland 2018 doch 100.986 Abtreibungen gemeldet. 2008 waren es noch 114.484. Was viele nicht wissen: Sinkende Abtreibungszahlen sind politisch gewollt, befreien sie doch scheinbar den Gesetzgeber von der Pflicht, die Beratungsregelung so nachzubessern, daß sie die empfangenen Kinder im Mutterleib tatsächlich wirksam schützt. Von einem wirksamen Schutzkonzept kann bei alljährlich um die 100.000 vorgeburtlich getöteten Kindern aber keine Rede sein.

Die Beratungsregelung von August 1995 ist vielmehr auf ganzer Linie gescheitert. Die bald 25 Jahre währende Gesetzespraxis zeigt: Sie schützt das ungeborene Kind nicht, sondern ist de facto eine Fristenregelung. Aktuell geschahen 96,2 Prozent der Abbrüche auf Beratungsschein. Bei den Abbrüchen muß auch kein Grund genannt werden, noch wird dieser ermittelt. Die Situation im Strafrecht ist schizophren: Der Schwangerschaftsabbruch ist ein Tötungsdelikt, wird aber nicht als Straftat geahndet, wenn bestimmte Auflagen eingehalten werden. Den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs aus Paragraph 218 StGB definiert Paragraph 218a als „nicht verwirklicht“, wenn die Schwangere den Abbruch verlangt und durch eine Bescheinigung nach Paragraph 219 Absatz 2 Satz 2 nachweist, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind und der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht 1993 auf eine „grundsätzliche Pflicht zum Austragen eines Kindes“ erkannt!

Abtreibungen sind in den Haushalten eingepreist

Wo die Unordnung im Grundsätzlichen einmal zugelassen ist, zieht sie alles weitere ebenso in Mitleidenschaft: Wenn eine Angestellte oder Arbeiterin einen rechtswidrigen Abbruch vornehmen läßt und sich deswegen krank meldet, sieht das Lohnfortzahlungsrecht es vor, ihr weiter Arbeitsentgelt zu zahlen. Karlsruhe hält es auch für verfassungsgemäß, daß die Bundesländer ein ausreichendes Angebot von Einrichtungen für Abtreibungen vorhalten (Sicherstellungsauftrag). Darüber hinaus finanziert der Staat Abtreibungen, die er selbst für rechtswidrig erklärt. Kassenärzte, Kassenärztliche Vereinigungen und gesetzliche Krankenkassen sind in die Tötung ungeborener Kinder eingebunden. Abtreibungen sind in den Landeshaushalten bereits eingepreist. Denn die Länder erstatten den gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die laut Gesetz gemeldeten straffreien, aber rechtswidrigen Abtreibungen.

Zwei Beispiele: Im Land Brandenburg wurden im Haushaltsjahr 2017 3.308 Abtreibungen vorgenommen, so die Antwort der Landesregierung auf eine kleine Anfrage der CDU-Fraktion vom 8. November 2018. Der Landeshaushalt Brandenburg hielt für das Haushaltsjahr 2017 1.175.000 Euro als Kostenerstattung bereit, für die Jahre 2018 bis 2020 sind dafür jeweils 1.197.200 Euro vorsorglich eingestellt. So führt es der Einzelplan 07 des Ministeriums für Arbeit und Soziales in Titel 636 10 auf, im Kapitel 07 070 mit dem Namen „Förderung der Sozialstruktur“.

Baden-Württemberg hat in den Haushaltsplan für 2018/19 jeweils vier Millionen Euro jährlich zu demselben Zweck eingestellt. Das Ministerium für Soziales und Integration bucht im Einzelplan 09 in Kapitel 0919 die Kostenerstattungen an die Krankenkassen für vorgeburtliche Kindstötungen allen Ernstes unter dem Punkt „Familienhilfe“ ab. 2017 wurden in Baden-Württemberg 9.505 Abtreibungen registriert, davon erfolgten genau zwei nach Vergewaltigung. 9.071 Abtreibungen wurden nach Beratung durchgeführt, ergab die Antwort der Regierung Winfried Kretschmann auf eine kleine Anfrage vom 29. August 2018. Die Landesstatistik führt 31 „Fetozide“ auf: also Spätabtreibungen, zu deutsch die Tötung eines Kindes ab der 22. Schwangerschaftswoche, das bereits außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre.

Daß eine rechtswidrige Tötungstat allein durch eine vorherige Beratung straflos gestellt ist, paßt nicht in das rechtsstaatliche deutsche Strafrechtssystem, so der Jurist und engagierte Lebensrechtler Wolfgang Philipp. Der Gesetzgeber sieht das anders: Er lockerte jüngst das Werbeverbot für Abtreibungen: Im Februar 2019 beschloß der Bundestag eine Reform des Paragraphen 219a StGB, die es erlaubt, daß Arztpraxen, Krankenhäuser und weitere Einrichtungen künftig darauf hinweisen – etwa im Internet –, daß sie Abtreibungen vornehmen. Vom Bundesverfassungsgericht ist ihm 1993 etwas ganz anderes aufgegeben worden: zu prüfen, ob die Beratungsregelung dem Schutzauftrag für das ungeborene Kind gerecht wird.

Die Genfer Deklaration des Weltärztebundes von September 1948 ist als Gelöbnis der Berufsordnung der deutschen Ärzte vorangestellt. Die Deklaration geht auf den Eid des Hippokrates zurück. In früheren Fassungen gelobten Ärzte den Schutz des ungeborenen Kindes: „Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen“. In der jüngsten, stark umgearbeiteten Version von Oktober 2017 ist aus diesem Satz ein wenig verbindliches „Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren“ geworden. Eine Anpassung an die weltweit geübte Praxis der Abtreibung?





Sterbehilfe / Euthanasie

Die Berufsordnung der Bundesärztekammer bestimmt, daß ein Arzt nie Beihilfe zur Selbsttötung leisten darf, etwa durch Bereitlegen eines Mittels in tödlicher Überdosis. Nicht alle 17 Landesärztekammern haben dieses Verbot des assistierten Suizids übernommen. Strafbewehrt ist die Beihilfe allerdings nicht, weil auch die Selbsttötung keine Straftat ist.

Klar unter Strafe steht die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung etwa durch Sterbehilfevereine. Deren Tätigkeit hat der Bundestag mit dem Sterbehilfeverbotsgesetz von 2015 im neugeschaffenen Paragraph 217 StGB einen Riegel vorgeschoben. Auch die Hilfe zur Selbsttötung durch Einzelpersonen wurde damit (vorbeugend) eingeschränkt. Auch die aktive Sterbehilfe, etwa der Wunsch nach Verabreichung einer Überdosis eines Betäubungsmittels, wird als Tötung auf Verlangen mit Freiheitsstrafe geahndet.

Die Rechtslage in Deutschland schützt hier den Patienten bislang vor irreversiblen Entscheidungen und Nützlichkeitserwägungen. Das Einfallstor für Entwicklungen wie in den Beneluxstaaten – in Belgien ist das Töten auf Verlangen sogar für Minderjährige ohne Altersgrenze erlaubt – stellt nach Auffassung von Lebensrechtlern die passive Sterbehilfe dar: Das Unterlassen oder Abbrechen von lebensverlängernden Maßnahmen (wie Ernährung mittels Magensonde, Beatmung, Bluttransfusion) ist seit 2010 erlaubt. Unter der Bedingung, daß das der erklärte oder mutmaßliche Wille des Patienten ist. Pars pro toto für kirchliche Mahnungen steht hier der evangelische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm, der anmahnte, daß „die Beendigung des Lebens eben nicht der einzige Weg ist, um mit Leiden umzugehen“ und davor warnte, Regelungen zu liberalisieren. Die Gefahr sei groß, daß „irgendwann Menschen sich unter Druck fühlen, daß sie ihr Leben entweder selbst beenden sollen oder daß sie andere Menschen darum bitten“.

Zwei aktuelle Fälle von passiver Sterbehilfe in Frankreich verdeutlichen, daß die moderne Apparatemedizin zu Situationen geführt hat, die das Gewissen herausfordern und mitunter Familien entzweien. Im Juli starb in Reims der Wachkoma-Patient Vincent Lambert. Dessen Tod trat nicht infolge seiner Krankheit ein, sondern weil Ärzte ihn wissentlich und willentlich herbeigeführt haben. Sie brachen nicht nur die (aussichtslose) Therapie ab, sondern auch die Pflege des Patienten: Nach einem entsprechenden Gerichtsurteil ließen Ärzte im Universitätsklinikum von Reims den 42jährigen verhungern und verdursten. Lambert hatte sich bei einem Unfall 2008 schwere Hirnverletzungen zugezogen, atmete indessen selbständig. Lamberts Frau und einige Verwandte gaben an, Lambert habe keine lebenserhaltenden Maßnahmen für sich gewünscht, hatten aber nichts schriftlich. Sie setzten sich dafür ein, Lambert sterben zu lassen. Lamberts katholische Eltern wollten dessen Tod dagegen verhindern und klagten. Sie scheiterten sowohl vor französischen Gerichten wie auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Der JF-Redaktion ist ein weiterer ganz ähnlich gelagerter Fall aus derselben Uniklinik in Reims bekannt, der nicht durch die Medien ging: Dort starb im März eine Wachkoma-Patientin, nachdem deren Pflege eingestellt worden war. Ein französisches Gericht hatte auf Antrag des wieder neu liierten Ehemannes der Schwerkranken den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zugelassen.





Organspende und Hirntod-Konzept

In diesem Herbst will der Bundestag über zwei Gesetzesentwürfe zur Organentnahme entscheiden. Besonders die „Doppelte Widerspruchslösung“ von Gesundheitsminister Jens Spahn und SPD-Mann Karl Lauterbach hat viel Contra hervorgerufen, da damit automatisch jedem Sterbenden Organe entnommen werden können. Es sei denn, er oder seine Angehörigen widersprechen.

Im Koalitionsvertrag von SPD und Union ist das Ziel definiert, die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Allenthalben heißt es in den Medien, es herrsche ein Mangel an Organspendern und ein hoher Bedarf an Lungen, Herzen oder Bauchspeicheldrüsen. Auf Einwohnermeldeämtern werden seit längerem Organspendeklappkarten mit Basisinformationen verteilt, beispielsweise bei Beantragung von Personaldokumenten. Auf dem Organspendeausweis ist aufgedruckt: „Für den Fall, daß nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich:“ Doch die Erklärung enthält eine Lüge. Denn der Mensch, dem Organe entnommen werden sollen, darf keinesfalls tot sein. Sonst wären die Organe zu nichts zu gebrauchen, denn die Verwesung setzt sofort ein. Darum die Umetikettierung von lebenden Patienten zu Toten. Darum der Trick mit der Hirntod-Definition, die auf die Organgewinnung ausgerichtet ist, die allein erst einen fremdnützigen Eingriff mit Todesfolge möglich macht. Das umstrittene Konzept des Hirntods wurde erst 1968 durch einen Entscheid der Harvard Medical School eingeführt, nach der ersten erfolgreichen Herztransplantation 1967. Vorher nannte man den Zustand ein irreversibles Koma. Von den sicheren Zeichen des eingetretenen Todes wie Totenflecke, Totenstarre und Fäulnis weisen „Hirntote“ selbstverständlich keines auf.





Pränataldiagnostik 

Man hat anhaltenden Husten oder einen beunruhigend schwarzen Leberfleck und begibt sich zum Arzt. Der untersucht, stellt eine Diagnose und schlägt eine Therapie vor. Wenn in der Schwangerschaft durch Fruchtwasseruntersuchung im Rahmen der Pränataldiagnostik beim Kind das Down-Syndrom festgestellt wird, hat dieses Verfahren jedoch keinen therapeutischen Nutzen. Es dient nur der Fahndung nach Anomalien, an der Verdreifachung des Erbguts (Trisomie 21) ändert es nichts. Lebensrechtler verweisen darauf, daß ungeborene Kinder mit Down-Syndrom in neun von zehn Fällen abgetrieben werden und damit kassenfinanzierte eugenische Selektion empörende Praxis ist – obwohl es die eugenische Indikation seit 1995 nicht mehr gibt.

Bei einer Orientierungsdebatte des Bundestages im April über die Kassenfinanzierung vorgeburtlicher molekulargenetischer Bluttests auf Trisomien – sie sind nichtinvasiv und daher für die Mutter risikoärmer – war es einzig die Behindertenbeauftragte der Grünen-Fraktion Corinna Rüffer, die sich klar gegen vorgeburtliche Selektion aussprach. Artikel 3, Absatz 3, Satz 3 Grundgesetz garantiert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die Maximalbenachteiligung durch Aussortieren wird, so befürchten Lebensrechtler und Behindertenverbände, mit der Verfeinerung der Diagnostik noch zunehmen.