© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Die „Entkurdung“ Kurdistans
Syrien: Bereitet die Türkei weitere Invasionen und Vertreibungen in der Kurdenregion ihres Nachbarlandes vor?
Ferhad Ibrahim Seyder

Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 und seiner Eskalation infolge der Intervention regionaler und internationaler Mächte, verfolgt die Türkei das Ziel, eine Puffer- oder Schutzzone entlang der Grenze zum Nachbarland zu errichten. Schließlich gelang es dem türkischen Präsidenten Erdogan im Januar 2018, die von Kurden bewohnte Selbstverwaltungsregion Afrin an sich zu reißen. 

Recep Erdogan verfolgt mehrere Ziele: Zum einen will er die von der kurdischen Partei der Demokratischen Einheit (PYD) errichtete autonome Region östlich des Euphrat samt ihrer militärischen, administrativen und politischen Struktur zerschlagen. An der Grenze zur Türkei, so heißt es aus Ankara, dürfe keine kurdische Autonomie entstehen, die mit dem Hauptfeind, der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in Verbindung steht. Dabei nützt es nichts, daß die PYD immer wieder beteuert, keine politisch-militärischen Verbindungen zur PKK zu unterhalten und sich lediglich der „Philosophie“ des PKK-Gründers Abdullah Öcalan verpflichtet zu fühlen.

Tatsächlich hat die PYD, die die Macht im Gebiet Ost-Euphrat hat, nie einen Schuß Richtung türkische Grenze abgefeuert. Und Ankara kann keine glaubhaften Gegenbeweise vorlegen. Ja, die PYD hat provokative Propagan­daaktionen unternommen; etwa riesige Tafeln mit dem Konterfei Öcalans entlang der türkischen Grenze aufzustellen. Aber ist das eine militärische Drohung oder gar Bedrohung der Türkei?

„Tausende Kurden durch Dschihadisten ersetzt“

Was die YPG, die Volksverteidigungseinheiten der PYD, betrifft, ist der Vorwurf des Terrors ebenso absurd wie die Bedrohungsthese. Denn sie hat in den letzten acht Jahren viele kurdische Aktivisten verhaften lassen, wogegen es etliche Proteste lokaler wie auch internationaler Menschenrechtsorganisationen gab. Die PYD hat also ein weniger demokratisches System aufgebaut – aber terroristische Aktionen waren erstens gegen die Kurden, nicht gegen die Türken gerichtet, und wurden zweitens schließlich eingestellt. Das ist der Grund, warum es absurd ist, selbst von der YPG als terroristischer Organisation zu sprechen. Nicht einmal kurdische Gruppierungen, die in fundamentaler Opposition zur PYD stehen, haben diese oder die YPG jemals als terroristisch bezeichnet.

Die USA, die die YPG seit 2014 unterstützten, wissen am besten, wie unseriös es ist, diese – die den IS aus Syrien vertrieben hat – als Terrorgruppe zu betrachten.

Zweites wichtiges Ziel Erdogans könnte die demographische Umgestaltung der Kurdengebiete Syriens sein. Die Vorgänge in der Afrin-Region, die er seit 2018 okkupiert hält, können als Paradigma der Erdoganschen „Entkurdisierung“-Politik betrachtet werden. Dort wurden Tausende von Kurden vertrieben und statt ihrer die arabischen Dschihadisten angesiedelt, die die Armee Erdogans begleitet haben.

 Dieser Vorgang ist von äußerster Relevanz, denn die gesellschaftliche Akzeptanz für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei (etwa 3,6 Millionen) nimmt ab. Mit der Ansiedlung der Araber in der kurdischen Region verdünnt die Türkei aber die Konzentration der Kurden entlang der Grenze zu Syrien und beseitigt somit für immer die „Gefahr“, daß die syrischen Kurden je Autonomie erlangen.

Doch eine türkische Invasion und die Ansiedlung von Dschihadisten und ihrer Familien auch in der Region Ost-Euphrat würde notwendigerweise zu neuen Konflikten führen. Die USA hatten sich zwar Anfang August mit der Türkei auf militärischer Ebene darauf geeinigt, daß eine geplante Sicherheitszone in Nordsyrien als „Friedenskorridor“ für vertriebene Syrer dienen soll. Doch nun fürchtet Washington einerseits seinen einzigen Verbündeten in Syrien, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), zu verlieren, sowie daß sich die Region, die mit US-Hilfe eine gewisse Stabilität erreicht hat, wieder zu einer akuten Krisenzone wandelt. 

Übrigens: Erdogan und Syriens Präsident Baschar al-Assad sind sich in einer Frage einig: Daß es zu einer autonomen, von Kurden dominierten Region, niemals kommen darf.






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder ist Leiter der Mustafa-Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt.