© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

„Gott gab uns die Kohle, daher müssen wir sie nutzen“
EU-Energiepolitik: Trotz Kritik will Polen seine Tagebaue an der Grenze erweitern / Kraftwerksneubau für 1,5 Milliarden Euro in Masowien
Paul Leonhard

Es gehört zum Standardrepertoire von grünen Klimapanikern, daß Deutschland „Weltmeister“ bei der Verbrennung von Braunkohle sei. Ja, das stimmt: 166,3 Millionen Tonnen wurden 2018 in den Tagebauen im Rheinland (86,3 Millionen Tonnen), in der Lausitz (60,7) und in Mitteldeutschland (19,2) gefördert und zu 90 Prozent in benachbarten Kraftwerken verbrannt. Und Braunkohle ist mit einem Anteil von 22,5 Prozent der wichtigste und billigste heimische Energieträger.

„Die als Grundlastkraftwerke konzipierten Braunkohlekraftwerke weisen eine hohe Verfügbarkeit und wegen ihrer geringen variablen Betriebskosten eine hohe Wettbewerbsfähigkeit auf“, muß selbst das Umweltbundesamt (UBA) in seinem Hintergrundpapier „Daten und Fakten zu Braun- und Steinkohlen“ eingestehen. In China werden hingegen jährlich nur 140, in Rußland 73,7 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert.

Kohleweltmeister ist China, Polen Europameister

Aber: 1990 war die deutsche Braunkohleförderung mehr als doppelt so hoch und der Anteil am Strommix lag bei 31 Prozent. „Aus globaler Sicht spielt Braunkohle – im Gegensatz zur Steinkohle – eine eher untergeordnete Rolle“, schreibt das UBA. 2015 wurden weltweit 6.702 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert. Spitzenreiter war China mit 3.384 Millionen Tonnen (Anteil von 50,5 Prozent). Es folgten die USA (11,2 Prozent), Indien (9,5 Prozent), Australien (6,6 Prozent) und Indonesien (sechs Prozent). Nur 18 Prozent der Steinkohle wird weltweit gehandelt, der Löwenanteil wird im eigenen Land in Kraftwerken, in der Industrie oder beim Heizen verwendet. Deutschland schloß seine letzte Zeche 2018. Der Bedarf von 51,4 Millionen Tonnen (0,8 Prozent der Weltförderung) wird durch Importe aus Rußland, den USA, Kolumbien, Australien, Polen, Südafrika und Kanada gedeckt.

Der Heizwert pro Tonne Steinkohle ist etwa dreimal so hoch wie der von Rohbraunkohle, was die deutsche „Weltmeisterschaft“ beim „Klimakillen“ ebenfalls relativiert. Dennoch wurde der deutsche Kohleausstieg bis spätestens 2038 von allen Bundestagsparteien – bis auf die AfD – bejubelt. Die Grünen und CSU-Chef Markus Söder wollen den Ausstieg sogar vorziehen, denn die Klimaziele seien „nur zu erreichen, wenn wir den Kohleausstieg massiv beschleunigen“, erklärte der bayerische Ministerpräsident im Münchner Merkur. „Am Ende müßten wir eigentlich im Jahr 2030 aussteigen“, so Söder. Das hieße, über die Hälfte der deutschen Stromerzeugung (die 13 Prozent Atomkraft fehlen schon ab 2023) zu ersetzen. Derzeit beträgt die installierte Nettonennleistung der Kohlekraftwerke in Deutschland etwa 45 Gigawatt. 2030 sollen laut Kohlekompromiß noch höchstens neun Gigawatt Braunkohle und acht Gigawatt Steinkohle am Netz sein.

Östlich von Berlin gibt es keine Klimapanik. Polen liegt mit einem Kohleanteil von etwa 85 Prozent im Strommix an der EU-Spitze. Warschau opponiert gegen den EU-Plan, bis 2050 „CO2-neutral“ zu werden. Bestenfalls könne Polen seinen Kohleanteil auf 50 Prozent senken, erklärte Energieminister Krzysztof Tchórzewski vergangenes Jahr. Und Polen liegt mit einer Braunkohleförderung von 60 Millionen Tonnen hinter den USA weltweit auf Rang fünf.

Der Rohstoff ist auch zwischen Oder und Bug die billigste Stromquelle. Daher werden von Brüssel vorgeschriebene grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen sehr frei interpretiert. Aktuell, wenn es um den östlich der Neiße gelegenen Tagebau Turów bei Reichenau in Sachsen (Bogatynia) geht, denn der staatliche polnische Stromversorger PGE plant eine Erweiterung in südöstlicher Richtung sowie eine Vertiefung von bisher 260 auf 300 Meter.

Täglich werden derzeit 32.000 Tonnen Rohbraunkohle auf Förderbändern zum Kraftwerk Turów geliefert. 1962 in Betrieb genommen, ist es das fünftgrößte Kraftwerk Polens mit einer Leistung von 1.499 Megawatt (MW). Um die vorhandenen Kohlenvorräte von 373 Millionen Tonnen fördern zu können, soll der 26 Quadratkilometer umfassende Tagebau um weitere rund 400 Hektar erweitert werden. Ziel ist es, bis 2044 Kohle abzubauen. Die aktuelle Genehmigung läuft im April 2020 aus. Für eine Verlängerung verlangt das EU-Umweltrecht aber eine grenzüberschreitende Öffentlichkeitsbeteiligung.

Eine Tagebauerweiterung belastet die Gemeinden im Dreiländereck Polen-Tschechei-Deutschland – doch dabei geht es eigentlich nicht um das Modethema CO2. So werden im sächsischen Zittau, das selbst auf einem Kohleflöz steht, Gebäudeschäden durch das Sinken des Grundwasserspiegels auf bis zu 15 Meter befürchtet. Im benachbarten Böhmen ist die Trinkwasserversorgung für 30.000 Menschen gefährdet. Allein Greenpeace hat rund 5.000 Einwendungen aus der Tschechei gegen die Tagebauerweiterung im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung vorgelegt.

Brüsseler Stiftung klagt gegen Tagebauerweiterung

Zu befürchten sei auch eine Zunahme der schon heute hohen Emissionen von Feinstaub und Stickoxiden, warnt der grüne Bundestagsabgeordnete Stephan Kühn in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung. Denn anders als bei den deutschen Kohlekraftwerken ist bei den polnischen noch viel Nachholbedarf bei der Abgasfilterung. Und: „Während in Deutschland Planungen zum Kohleausstieg in der Lausitz eine erhebliche CO2-Reduzierung bringen würden, werden mit der Inbetriebnahme des neuen Kraftwerkblocks in Turów rund 2,8 Millionen Tonnen CO2 jährlich zusätzlich im Vergleich zum Status quo emittiert“, so der Dresdner MdB.

Der Tagebau habe negative Auswirkungen auf das Leben der Bürger rings um Grottau (Hrádek nad Nisou), Kratzau (Chrastava) und Friedland im Isergebirge (Frýdlant v Cechách), so Martin Puta, Bezirkshauptmann der Reichenberger Region (Liberecký kraj), in einem Brief an das Prager Umweltministerium. Die böhmische Region will die polnischen Pläne mit Hilfe renommierter Anwälte der Brüsseler Stiftung Frank Bold (Motto: „Clean and decentralized energy production in the EU“) stoppen, die bereits erfolgreich die Erweiterung des Braunkohletagebaus im Landkreis Crossen (Powiat Krosnienski) unweit von Guben (Gubin) stoppen konnten. Hier liegen noch 800 Millionen Tonnen Braunkohle unter der Erde. Sollte die Erweiterung im Fall Turów genehmigt werden, käme auch der Tagebau bei Guben wieder ins Gespräch.

Trübungen der Lausitzer Neiße auf Brandenburger Gebiet konnten bereits 2015 vom Potsdamer Umweltministerium dem Tagebau Turów zugeordnet werden. Künftig könnte die Neiße durch Auswaschungen von Uran, Quecksilber und Cadmium beeinträchtigt werden. Schon heute seien erhöhte Werte in böhmischen Neiße-Zuflüssen festzustellen, so der polische Hydrologe Sylwester Krasnicki. Doch während sich deutsche Politiker sonst gern in die Innenpolitik der östlichen EU-Länder einmischen, zeigt sie hier Zurückhaltung: Jedes EU-Mitglied sei souverän, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen zu bestimmen. „Eine aktive Beteiligung der Bundesregierung an dem grenzüberschreitenden Verfahren ist derzeit nicht vorgesehen“, heißt es in der Antwort des Bundesumweltministeriums auf die Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion. Zuständig seien die sächsischen Landesbehörden.

Selbst wenn beide Braunkohleprojekte verzögert werden: Die polnische Regierung setzt energisch darauf, die relativ teure, in schlesischen und ostpolnischen Bergwerken geförderte Steinkohle (80 Prozent Anteil) durch die billigere Tagebaubraunkohle (20 Prozent Anteil) zu ersetzen. Allein unweit des niederschlesischen Liegnitz (Legnica) liegen mit geschätzten 35 Milliarden Tonnen die größten unerschlossenen Braunkohlevorkommen in der EU. Das 1981 eingeweihte Elektrownia Belchatów, unweit von Lodsch (Lódz) gelegen, ist mit 5.472 MW (entspricht etwa vier AKW) das größte Braunkohlekraftwerk der Welt.

Nordöstlich von Warschau wird derzeit dennoch für 1,5 Milliarden Euro der dritte 1.000-MW-Block des Steinkohlekraftwerks Ostrolenka (Ostroleka/Woiwodschaft Masowien) von einem Konsortium des US-Konzerns GE Power gebaut. Denn in den schlesischen Revieren rumort es unter den Kumpeln: „Gott gab uns die Kohle, also müssen wir das für uns nutzen“, sagt Miroslaw Truchan, schlesischer Regionalchef der seit 1980 kampferprobten Arbeitergewerkschaft Solidarnosc. Die Subventionierung der Steinkohleindustrie kostet die polnische Regierung jährlich umgerechnet etwa zwei Milliarden Euro – die Stimmen von 200.000 Kohleindustriebeschäftigten und ihren Angehörigen zu verlieren schmerzte sie aber sicher noch mehr.

Die Stromerzeugung teilweise auf russisches Erdgas umzustellen, kommt für Warschau politisch nicht in Betracht. Der begonnene teurere Flüssiggasimport aus den USA oder Katar ist vor allem dafür gedacht, die ungesunden Kohleheizungen endlich auf sauberes Erdgas umzustellen. Nur gegen die – von CDU, CSU und FDP in Deutschland auch für den Verkehr und die Wohnungsheizung propagierten – CO2-Zertifikate ist Warschau machtlos. Jedes Kohlekraftwerk muß sie auf EU-Geheiß kaufen. Ihr Preis stieg 2018 um fast 200 Prozent auf etwa 20 Euro pro Tonne CO2 – was den Strompreis nun steil ansteigen ließ.

Polnische Kohlekraftwerke

 www.energaostroleka.pl

 elturow.pgegiek.pl/