© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Der Protest-Korso wollte scheinbar kein Ende nehmen: Hunderte Rocker und Biker – die Polizei zählte bis zu 1.000 Motorräder – schlängelten sich auf ihren schweren Maschinen, ganz überwiegend einer US-amerikanischen Kultmarke, vergangenen Samstag durch halb Berlin in Richtung Brandenburger Tor. Die von den Hells Angels initiierte Demonstration unter dem Motto „Freedom is our Religion“ richtete sich gegen die im März 2017 beschlossene Verschärfung des Vereinsgesetzes und das darauf fußende Kuttenverbot für bestimmte Rockergruppen (Streifzüge vom 22. September 2017). André Sommer, Chef des Hells Angels MC Nomads, eröffnete die Kundgebung direkt vor dem Brandenburger Tor überraschend selbstkritisch: „Richtig ist, daß wir die Situation, in der wir uns befinden, mit zu verantworten haben.“ Es seien in der Vergangenheit „zu viele Dinge“ passiert, die nichts mit dem zu tun haben, „was wir sind und was wir wollen“. Einer der nachfolgenden Redner, Lothar Berg (68), Schriftsteller, Drehbuchautor und Liedtexter, drückte es so aus: „Na klar steht heute hier der eine oder andere Gauner unter uns, wie er auch in manchen Gottesdiensten und anderen Versammlungen überall dabei ist. Na und?“ Deswegen seien längst nicht alle Rocker kriminell. Bergs Botschaft als Nicht-Biker: „Wir alle tragen eine Kutte. Die Kutte der Freiheit. Und wir tragen sie in unseren Herzen.“ 


„Was immer Sie festigt, woran immer Sie glauben mögen – glauben Sie einmal zwei Stunden lang nicht daran.“ (Botho Strauß, „Der Fortführer“, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2018)


Seit 2018 sind beim Bundesverfassungsgericht Klagen von Clubmitgliedern der Hells Angels und der Bandidos sowie des Gremium MC gegen das Abzeichen-Verbot auf ihren Kutten anhängig. Laut seines Arbeitsplans will der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts noch dieses Jahr über die Verfassungsbeschwerden gegen die Änderung des Vereinsgesetzes und seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz entscheiden (BvR 2067/17, 1 BvR 423/18, 1 BvR 424/18). Angesichts der seit Jahren laufenden Kriminalisierungsstrategie gegen Rocker dürften die Erfolgsaussichten jedoch eher gering sein.

  

„Menschen, die zu allem ein gesundes Urteil haben, ahnen gar nicht, wie ein Urteil beschaffen sein muß, um Bestand zu haben: daß es nämlich zuerst unter Zähneklappern, zitternd und fiebernd durch den Eiswald der Sachverhalte irren muß, um zu sich zu finden.“ (Botho Strauß, ebd.)