© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Reproduktionsmedizin: Der Weg in die eugenische Gesellschaft?
Auf der Wasserscheide
Manfred Spieker

In den gut 40 Jahren seit der Geburt von Louise Brown am 25. Juli 1978 in Oldham bei Manchester, dem ersten Menschen, der im Labor erzeugt wurde, sind weltweit rund 6,5 Millionen Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren worden – in Deutschland bis Ende 2018 rund 300.000. Etwa drei Prozent aller lebend geborenen Kinder in Deutschland wurden 2016 nach künstlicher Befruchtung geboren. Grund für diese Expansion ist einerseits der Wunsch nach einem Kind und andererseits die schwindende Fähigkeit der Frauen, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, weil Karrierepläne, Partnermangel oder Bindungsängste den Entschluß, eine Familie zu gründen, immer wieder aufschieben.

Der Wunsch nach einem Kind ist legitim. Die Fortpflanzung gehört zu den zeit- und kulturunabhängigen Bedürfnissen, den existentiellen Zwecken der menschlichen Natur. Unfreiwillige Kinderlosigkeit gilt als Krankheit, die künstliche Befruchtung als deren Therapie. Reproduktionsmediziner rechtfertigen die assistierte Reproduktion mit dem Leiden ihrer Patienten. Die Krankenkassen haben diese Sicht übernommen und die künstliche Befruchtung, wenn auch mit Einschränkungen, als Sterilitätstherapie in ihren Leistungskatalog aufgenommen. Der Begriff ist freilich irreführend, denn die Sterilität wird nicht therapiert, sondern nur überlistet. Sie bleibt selbst nach einer erfolgreichen, also zur Geburt eines Kindes führenden Behandlung die gleiche wie zuvor. Reproduktionsmediziner behandeln mit der In-vitro-Fertilisation (IVF) und der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) also nicht eine Krankheit, sondern einen Wunsch, den Wunsch nach einem Kind. Dieser Wunsch ist, um es noch einmal zu unterstreichen, legitim.

Die Legitimität einer medizinischen Intervention bei der Fortpflanzung hängt aber davon ab, daß sich der assistierende Arzt der Tatsache bewußt bleibt, daß er es nicht nur mit dem Kinderwunsch eines Paares, sondern mit dem Kind als einem dritten Subjekt zu tun hat. Das Kind als eigenständiges Subjekt aber ist das erste Tabu der assistierten Reproduktion. Selbst Anwälte der assistierten Reproduktion gestehen ein, der Reproduktionsmediziner könne das Ergebnis seiner Konservierungs- und Injektionskünste nicht als Subjekt denken. Die Fokussierung auf den Kinderwunsch der Erwachsenen und die Ausblendung des Subjektstatus des Kindes hat die Reproduktionsmedizin dazu geführt, ihr Arsenal zur Erfüllung des Kinderwunsches immer weiter auszudehnen – über die homologe künstliche Befruchtung hinaus auf Samenspende, Eizellspende, Leihmutterschaft, Embryonenadoption bis hin zum Ropa-Verfahren bei lesbischen Frauen, bei dem eine die Eizelle spendet und die andere nach einer künstlichen Befruchtung die Schwangerschaft austrägt.

Die Ausweitung des Arsenals der Reproduktionsmedizin wiederum hat zur Folge, daß sich die Reproduktionsmediziner am Embryonenschutzgesetz von 1990 reiben, ist es doch ein Gesetz zum Schutz des Embryos und nicht zur Realisierung der Reproduktionsfreiheit Erwachsener, weshalb es nur die Befruchtung von so vielen Eizellen erlaubt, wie der Frau, von der die Eizellen stammen, zum Zwecke einer Schwangerschaft implementiert werden können – im Höchstfall drei. Die Rufe nach einem es ersetzenden Reproduktionsmedizingesetz sind 2017 lauter und zahlreicher geworden.

Die Reproduktionsmedizin hat den Weg geöffnet für eine Technisierung der Zeugung. Der Weg führt mit logischer Konsequenz vom zertifizierten Qualitätsmanagement des reproduktionsmedizinischen Labors zum Qualitätsmanagement seines Produkts.

So forderte der 120. Deutsche Ärztetag im Mai 2017 in Freiburg den Gesetzgeber in zwei verschiedenen Entschließungen auf, durch ein Reproduktionsmedizingesetz für Rechtssicherheit bei unerfülltem Kinderwunsch zu sorgen. Deutliche Differenzen zeigten die beiden Entschließungen in den Begründungen. Forderte der Antrag von Rudolf Henke, dem Vorsitzenden des Marburger Bundes und CDU-Bundestagsabgeordneten, sowie weiteren 28 Ärzten, bei der Regelung der Reproduktionsmedizin „das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen“, so ging der Vorstand der Bundesärztekammer in seinem Antrag davon aus, daß bei dieser Regelung „das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen mit Kinderwunsch“ ebenso zu berücksichtigen sei wie das Kindeswohl – eine offenkundige Quadratur des Kreises.

Daß die Menschenwürdegarantie auch dem Embryo zukommt, wird in der Bioethikdebatte häufig bestritten. Der Zweck des Bestreitens liegt auf der Hand. Wenn die Menschenwürde dem Embryo nicht zukommt, hat die Reproduktionsmedizin wie auch die Forschung an und mit embryonalen Stammzellen freie Bahn.

Mit der Menschenwürde und der aus ihr abgeleiteten Pflicht, alles zu unterlassen, was Leben, Freiheit und Gleichheit des Embryos existentiell bedroht, kollidiert eine Reihe von Aspekten der künstlichen Befruchtung. Die Herstellung von Embryonen, die nie eine Chance haben, geboren zu werden, die eingefroren oder verworfen werden, ist ein Verstoß gegen das Recht auf Leben und die Würde des Menschen. Der offenkundigste Verstoß ist der euphemistisch „Mehrlingsreduktion“ genannte Fetozid nach erfolgreicher Implantation mehrerer Embryonen, also die Tötung eines Embryos oder mehrerer Embryonen in der Gebärmutter, wenn sich mehr als gewünscht eingenistet haben. Das Deutsche IVF-Register, Jahrbuch 2017, weist 209 „Mehrlingsreduktionen“ mit 284 getöteten Embryonen aus. Die Reproduktionsmedizin spielt mit dem Leben des künstlich erzeugten Kindes.

Die Lage für die Eltern ist dramatisch. Die künstliche Befruchtung zwingt sie zu paradoxen Entscheidungen. Sie wollen ein Kind, entschließen sich aber bei der Mehrlingsreduktion gleichzeitig, eines oder mehrere töten zu lassen, eine Beziehung zwischen Geschwistern zu zerstören und dem überlebenden Embryo ein Heranwachsen an der Seite des getöteten Bruders beziehungsweise der getöteten Schwester zuzumuten – bleibt der getötete Embryo doch bis zur Geburt des lebenden in der Gebärmutter. Angesichts der Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und insbesondere der pränatalen Psychologie über die Einflüsse psychischer und sozialer Faktoren auf die Entwicklung des Embryos sollte es verwundern, wenn der Fetozid nicht auch für den verbleibenden Embryo eine schwere Hypothek ist.

Die leib-seelische Einheit der Vereinigung und des Zeugungsgeschehens geht durch die assistierte Reproduktion verloren. Schon 1985 hat die EKD in einer heute weithin vergessenen „Handreichung zur ethischen Urteilsbildung“ auf die wechselseitigen Abhängigkeiten physischer und psychischer Vorgänge in Zeugung, Schwangerschaft und Geburt hingewiesen und vor dem Verlust der leib-seelischen Ganzheit des Zeugungsvorganges durch die IVF gewarnt. Die katholische Kirche verteidigt in der Erklärung der Glaubenskongregation „Donum Vitae“ (1987) den ehelichen Liebesakt in seiner leib-seelischen Ganzheit als den einzigen legitimen Ort, der der menschlichen Fortpflanzung würdig ist. Die Eheleute hätten das Recht und die Pflicht, „daß der eine nur durch den anderen Vater oder Mutter wird“.

Mit der Verteidigung der Sexualität und des ehelichen Liebesaktes als einer leib-seelischen Einheit bringen die Kirchen zum Ausdruck, daß es eine Würde der menschlichen Fortpflanzung gibt, die gewiß vielfach mißachtet wird, nicht nur in der künstlichen Befruchtung – die aber dennoch eine Voraussetzung gelingenden Lebens ist.

Daß Eltern, die unter der Kinderlosigkeit leiden, das Problem auch auf andere, adäquatere Weise lösen können, zeigen die Ergebnisse der psychologischen Paartherapie bei langjährig ungewollt kinderlosen Paaren, deren Erfolgsraten über denen der assistierten Reproduktion liegen, aber auch die Verfahren zur Verbesserung der natürlichen Fertilität wie FertilityCare, Sensiplan und NaProTechnology.

Die Reproduktionsmedizin hat den Weg geöffnet für eine Technisierung und Zertifizierung der Zeugung. Der Weg führt mit logischer Konsequenz vom zertifizierten Qualitätsmanagement des reproduktionsmedizinischen Labors zum Qualitätsmanagement seines Produkts, mithin zu einer eugenischen Geburtenplanung. „Wenn wir eines Tages ein Gen hinzufügen können, um Kinder intelligenter oder schöner oder gesünder zu machen“, so der Molekularbiologe James Watson, der für seine Entdeckung der DNS-Struktur 1962 den Nobelpreis erhielt, „dann sehe ich keinen Grund, das nicht zu tun ... Wenn wir in der Lage sind, die Menschheit zu verbessern, warum nicht?“ Die eugenische Mentalität wird nicht verheimlicht.

Mit dem 2012 entwickelten Verfahren, mittels einer Genschere (CRISPR-Cas 9) in die DNS-Struktur einzugreifen, Gene herauszuschneiden oder einzuführen, ist die Versuchung, den Menschen genetisch zu manipulieren, erneut gestiegen. Der Chinese He Jiankui berichtete im November 2018 von der Geburt von Zwillingsmädchen, deren Erbgut er mittels der CRISPR-Cas-Technologie geändert habe, um sie immun gegen HIV zu machen.

Wird die genetische Optimierung erst einmal akzeptiert, dehnt sich die Verantwortung in erschreckende Dimensionen aus. Dann werden Eltern verantwortlich, die richtigen Eigenschaften ihrer Kinder ausgewählt oder nicht ausgewählt zu haben.

Die eugenische Gesellschaft ist die Konsequenz der prometheischen Anmaßung des Menschen, sein Leben nicht mehr als geschenkte Gabe, sondern als eigenes Produkt zu betrachten. Diese Anmaßung führt zu einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der den Machern die Gemachten, den biotechnischen Ingenieuren ihre eigenen Produkte gegenüberstehen. Dies untergräbt die Voraussetzung einer freien Gesellschaft, die in der ontologischen Gleichheit ihrer Mitglieder liegt. An Warnungen vor dieser neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft fehlt es nicht. Die biomedizinischen Handlungsmöglichkeiten dekonstruieren, so Robert Spaemann, die Differenz zwischen Person und Sache, also die Grundlagen der Menschenwürde und der rechtsstaatlichen Ordnung. Sie verändern, so Jürgen Habermas, unser gattungsethisches Selbstverständnis und die intuitive Unterscheidung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem. Das eugenische Bestreben, das Geheimnis der Geburt zu beherrschen, verdirbt, so Michael J. Sandel, die Elternschaft als soziale Praxis, die vom Standard voraussetzungsloser Liebe bestimmt ist.

Werde die genetische Optimierung erst einmal akzeptiert, dehnt sich die Verantwortung in erschreckende Dimensionen aus. Eltern werden verantwortlich, die richtigen Eigenschaften ihrer Kinder ausgewählt oder nicht ausgewählt zu haben. Wenn der Mensch „nicht mehr aus dem Geheimnis der Liebe heraus, über den letztlich ja doch geheimnisvollen Vorgang der Lebenszeugung und der Geburt“ entstehe, so Joseph Ratzinger, sondern „industriell als Produkt“, ist er von anderen Menschen gemacht und entwürdigt (nach Joseph Ratzinger: „Gott und die Welt. Ein Gespräch mit Peter Seewald“). Die unter seiner Leitung erarbeitete Instruktion der Glaubenskongregation „Donum Vitae“ lehnte deshalb die assistierte Reproduktion ab. Sie widerspricht der Würde und der Gleichheit, die Eltern und Kindern gemeinsam sein muß.

Wir sind, warnt Francis Fukuyama, auf einem Weg in eine „posthumane Zukunft“. Eines Tages befinden wir uns auf der anderen Seite der Wasserscheide zwischen humaner und posthumaner Geschichte und haben nicht einmal bemerkt, wie wir den Kamm überschritten haben. Der Kamm, das ist die Trennung von Zeugung und Geschlechtsakt. Diese Trennung von Zeugung und Geschlechtsakt ist nicht nur ein Thema von Zukunftsromanen (George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“), sondern auch von Jugendromanen und von medizinischen Lehrbüchern, und sie gilt in letzteren nicht als Schreckensvision, sondern als Fortschritt.

Wenn diese Verblendung nicht aufzubrechen ist, dann ist in der Tat die Politik gefordert. Sie hätte in einem Reproduktionsmedizingesetz nicht das Arsenal der assistierten Reproduktion zu legalisieren, sondern der Reproduktionsfreiheit Grenzen zu setzen und dem Lebensrecht und der Würde des Embryos Geltung zu verschaffen. Kinder auf Bestellung können nicht das Ziel der assistierten Reproduktion sein. Die verbreitete Ansicht, der technische Fortschritt ließe sich nicht aufhalten oder nationale Regeln seien angesichts der Globalisierung ineffizient, ist überwindbar, wie das Beispiel der Kernenergie zeigt. Auch bei großen Technologien sind neue Erkenntnisse und Revisionen möglich, die zur Umkehr auffordern. Die Menschenwürde gebietet eine solche Umkehr auch in der assistierten Reproduktion.






Prof. em. Dr. Manfred Spieker, Jahrgang 1943, lehrte von 1983 bis 2008 Christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osna­brück. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Ehe als gefährdete Ressource des Gemeinwohls („Familie gut, alles gut“, JF 27/16).

Foto: Menschlicher Embryo als Laborprodukt, als Kind auf Bestellung: Wenngleich der Wunsch nach einem Kind legitim ist, so ist die Herstellung von Embryonen, die nie eine Chance haben, geboren zu werden, die eingefroren oder verworfen werden, ein Verstoß gegen das Recht auf Leben und die Würde des Menschen