© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Eine gelebte Schizophrenie
Weg zur deutschen Einheit: Ab September 1989 spitzte sich die Lage in der damaligen DDR zu
Thorsten Hinz

Die Endphase der DDR wurde von Staats- und Parteichef Erich Honecker persönlich eingeleitet. Am 19. Januar 1989 erklärte er auf einer Tagung in Ost-Berlin, die Mauer werde auch „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind“. Aus dem kommunikativen Supergau sprach eine tiefe Verunsicherung. Die Aufforderung von US-Präsident Ronald Reagan 1987 am Brandenburger Tor: „Tear down this wall!“, war noch in aller Ohren. Vordergründig hatte es sich nur um einen genialen Propaganda-Coup gehandelt, doch sie war auch Ausdruck einer in Fluß geratenen Weltlage. Der Affront schmerzte doppelt, weil Reagan seine Forderung gar nicht an die DDR-Führung, sondern an den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow gerichtet hatte, dessen Reformeifer die SED-Spitze zunehmend irritierte. 

Im Innern stieg der Druck ebenfalls. Wenige Tage vor Reagans Auftritt hatte David Bowie vor dem Reichstag ein Konzert gegeben und mit dem Lied „Heroes“ die Mauer offen angeprangert: „Standing, by the wall … And the guns shot above our heads … And the shame was on the other side“. Die zahlreichen jungen Bowie-Fans, die sich auf der Ostseite versammelt hatten, skandierten im Sprechchor: „Die Mauer muß weg!“ So einen Aufruhr – zudem vor westlichen Fernsehkameras – hatte es lange nicht mehr gegeben. Die Polizei setzte Schlagstöcke ein.

Honecker wollte Stärke demonstrieren, doch seine Worte bewirkten das Gegenteil. Sie schlugen die Fiktion, genauer: die Lebenslüge, auf der das fragile Einvernehmen zwischen Regierung und Regierten beruht hatte, endgültig in Stücke. Jeder wußte oder ahnte, daß die Mauer „die abscheulichste und stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems“ war, wie Präsident Kennedy 1963 in West-Berlin gedonnert hatte. 

Doch nutzte diese Erkenntnis den DDR-Bürgern im Alltag wenig. Um das Übel, das unabänderlich ist, auszuhalten, klammert man sich auch an die unvernünftigsten Hoffnungen. Sie leiteten sich aus den offiziellen Begründungen für das Bauwerk her. Danach war die Schließung der Grenze eine temporäre Angelegenheit. Indem sie die Kriegsabsichten, die Sabotage-, Wühl- und Agententätigkeit des Klassenfeindes abwehrte, gab sie der DDR die Möglichkeit, ungestört die Vorzüge des Sozialismus zu entfalten. Im Ergebnis würde sie die Bundesrepublik an Attraktivität und Anziehungskraft überbieten und gar keine Mauer mehr nötig haben. 

Desillusionierung und Frustration im ganzen Land

Ihr dialektischer Zweck bestand also darin, sich schnellstmöglich überflüssig zu machen, und es lag in der Hand eines jeden DDR-Bürgers, durch gute Arbeit und staatsbürgerliches Engagement ihre Existenz abzukürzen. So wurden die Menschen in eine perverse Loyalität zum SED-Staat hineingezwungen. In den kurzen Aufschwungsphasen um 1965 und noch einmal zu Beginn der siebziger Jahre schien die Fiktion eine gewisse Plausibilität zu besitzen, ehe sie von Jahr zu Jahr absurder wurde. Und nun erklärte Honecker höchstselbst, daß man in 28 Jahren der Mühen, Entsagungen und Einschränkungen keinen Schritt vorangekommen war und es trotzdem immer so weitergehen sollte. Die Desillusionierung und Frustration im Land staute sich in den zwei Worten, mit denen viele DDR-Flüchtlinge im Sommer 1989 ihren Übertritt in den Westen begründeten: „Geene Berschebegdive!“

Die politische Reflexion war die Angelegenheit einer Minderheit. Der Staatsverdruß entsprang zuallererst dem tristen Alltag. Die Innenstädte, die Bahnschienen, die Straßen zerbröselten. Die Luft war von Abgasen und Kohlestaub geschwängert, die Gewässer verschmutzt. Das Warenangebot war knapp, dysfunktional und ästhetisch eine Zumutung. Die D-Mark war die inoffizielle Zweitwährung und schuf in der klassenlosen Gesellschaft die Klassen der Besitzer und Nichtbesitzer. Im Urlaub in den sogenannten Bruderländern rangierte der Hochschullehrer aus der DDR mit  seinem Aluminiumgeld klar hinter dem Sozialhilfeempfänger aus dem Westen.

Gleichzeitig verkündete die Propaganda immer neue Erfolge, Errungenschaften und ruhmvolle Siege, und wer Nachteile vermeiden wollte, muße den staatlichen Lügen öffentlich akklamieren. Es war eine gelebte Schizophrenie. Die Mauer machte die sozialen, psychischen, politischen Zumutungen faktisch und symbolisch zur unentrinnbaren Realität, was zu klinisch nachweisbaren Neurosen und klaustrophobischen Symptomen führte. Der Ruf nach Reisefreiheit meinte viel mehr als das Recht auf selbstbestimmte Ortsveränderung. 

Erschwerend für die DDR kam hinzu, daß sie die direkte Kriegsbeute der Sowjetunion war. Dieses Faktum setzte der politischen Phantasie von vornherein enge Grenzen. Während die Opposition in anderen Ostblockländern den Sozialismus innerlich längst hinter sich gelassen hatte, operierten die Bürgerrechtler in der DDR noch immer in der Begrifflichkeit von Karl Marx und Rosa Luxemburg. Von Vorteil dagegen war die proklamierte Obhutspflicht der Bundesrepublik für die DDR-Deutschen, so daß in der Abwägung der Möglichkeiten die individuelle Lösung, nämlich der Ausreiseantrag, erfolgversprechender erschien als die politische Opposition.

Mitte der achtziger Jahre veränderte sich die Situation. Der neue sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow versuchte das System zu liberalisieren und gewährte auch den Satellitenstaaten ungewohnte Freiheiten. Während die Führungen in Polen und Ungarn den Spielraum für Liberalisierungen nutzten, sperrte die DDR-Führung sich vehement gegen jede Konzession. Ermutigt durch Glasnost und Perestroika, unternahm es die in Umwelt-, Friedens- und kirchlichen Basisgruppen tätige Opposition, durch Flüsterpropaganda, Handzettel und improvisierte Plakate, eine Nein-Stimmen-Bewegung für die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu organisieren. 

Die Ausreisebewegung erwies sich als Eisbrecher

Normalerweise erhielten die SED-geführten Einheitslisten bei den offenen Abstimmungen 99,9 Prozent Ja-Stimmen. An diesem Abend dauerte es auffallend lange, bis das DDR-Fernsehen eine Zustimmung von 98,8 Prozent bekanntgab. Das Ergebnis war, wie unabhängige Wahlbeobachter ermittelt hatten, gefälscht. In Wahrheit dürfte der Anteil der Nein-Stimmen um die sieben Prozent gelegen haben. Für ein Regime, das sich jahrzehntelang über die „Einheit und Geschlossenheit“ von Volk, Partei und Regierung definiert und legitimiert hatte, bedeutete das eine Ohrfeige und einen Dammbruch, die es unmöglich eingestehen konnte.

Doch der bürgerrechtliche, auf Reformierung des sozialistischen Staates setzende Widerstand stellt in der allgemeinen Entwicklung nur ein Beiboot dar. Als Eisbrecher erwies sich dagegen die Ausreisebewegung, die in den achtziger Jahren proportional zur allgemeinen Resignation rasant anschwoll. 1984 hatten die DDR-Behörden auf einen Schlag 20.000 Ausreisegenehmigungen erteilt in der Annahme, die Situation im Land zu beruhigen. Das Gegenteil war der Fall. Viele DDR-Bürger, die sich innerlich vom Staat verabschiedet, aber noch gezögert hatten, faßten nun ebenfalls den Entschluß, einen Antrag zu stellen. 1987 überschritt ihre Zahl die 100.000-Marke. Die erste Montagsdemonstration in Leipzig, die im März 1989 während der international besuchten Frühjahrsmesse stattfand, wurde größtenteils von Antragstellern getragen.

Ab Mai 1989 überschlugen sich die Ereignisse. Die Nachricht, daß Ungarn mit dem Abbau des Grenzzaunes zu Österreich begann, bestimmte vielfach die Urlaubsplanungen. Unterdessen kriminalisierte die Stasi die Kritiker der Wahlfälschung und begrüßte die SED-Führung das Vorgehen des chinesischen Militärs auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni. Das konnte nur als Drohung nach innen verstanden werden. Das Wort von der „chinesischen Lösung“ machte die Runde und verstärkte den Drang, die DDR zu verlassen.

Mitte Juni besuchte Generalsekretär Gorbatschow die Bundesrepublik und wurde enthusiastisch gefeiert. Mit Kanzler Kohl unterzeichnete er eine Erklärung, die ein „neues politisches Denken“ proklamierte und in der beide Staaten sich verpflichteten, „zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen“. Damit waren die Breschnew-Doktrin und letztlich die DDR mehr oder weniger zur Disposition gestellt.

Tatsächlich gab Gorbatschow beim Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten am 7. Juli in Bukarest bekannt, daß die sozialistischen Länder künftig ihre inneren Verhältnisse nach eigenem Gutdünken gestalten konnten. Was die Ungarn und die Polen freute, schockierte die übrigen. Sie begriffen, daß ihnen die definitive Bestandsgarantie durch sowjetische Panzer entzogen war. Honecker erlitt eine Gallenkolik und wurde nach Berlin zurückgeflogen. Nach einer schweren Operation trat er einen wochenlangen Erholungsurlaub an.

Honecker war zu dem Zeitpunkt 77 Jahre alt. Seit 1971 stand er an der Spitze der SED. Bei ihm konzentrierte sich die letzte Entscheidungsgewalt. Sein Totalausfall ausgerechnet in der Phase, in der Tausende DDR-Bürger ihre Koffer packten, lähmte den gesamten Regierungsapparat. Doch selbst bei besserer Gesundheit wäre es zu keinen vernünftigen Entschlüssen mehr gekommen. Die protokollierten Gespräche, die Honecker im Frühsommer 1989 mit Politikern aus der Bundesrepublik führte, offenbaren seinen völligen Realitätsverlust. Unverdrossen behauptete er: „Die Stabilität der DDR besteht in ihrer gesellschaftlichen Effektivität.“  

Am 4. August hielten sich rund 150 DDR-Bürger in der BRD-Botschaft in Budapest auf mit dem Ziel, ihre Ausreise zu erzwingen. 14 Tage später mußte auch die Botschaft in Prag wegen Überfüllung geschlossen werden. Das gleiche spielte sich in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin ab. Tausende DDR-Bürger campierten in Ungarn in Zeltlagern und warteten auf die Gelegenheit, über die grüne Grenze nach Österreich zu gelangen. Allein im August 1989 übersiedelten rund 21.000 DDR-Bürger in den Westen, davon 8.000 illegal. Der Gesamtsaldo seit Januar lag bei rund 60.000 Ausgereisten.

Am 14. August stattete der sichtlich angeschlagene Honecker dem Kombinat Mikroelektronik in Erfurt einen Besuch ab. Vor laufender Kamera wurden ihm die ersten Funktionsmuster von 32-Bit-Prozessoren übergeben: Eine potemkinreife Szene, die Honecker zum Anlaß nahm, die „Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaft“ zu preisen. Auf die Staatskrise ging er nur indirekt ein mit dem Ausspruch: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ Zur selben Zeit äußerte der DDR-Schriftsteller Stefan Heym im Westfernsehen, die Landflucht sei ein „Phänomen, das droht, die DDR zu vernichten“. 

Erich Honecker traf erneut den falschen Ton

So war es. Die internationale Öffentlichkeit erlebte in Echtzeit, wie der flexible Teil des Staatsvolks die Mauer funktionslos machte und der DDR die Existenzgrundlage entzog. Es waren keine Hooligans, sondern normale, zumeist junge Leute, viele mit Kindern, die über die Grenze strömten. Auch aus dem Ostblock schlug der DDR kaum verhohlene Verachtung entgegen. Sowohl die Reform-Genossen in Ungarn als auch die Neostalinisten in Prag mahnten die SED-Führung für Abhilfe zu sorgen, weil der Auflauf von DDR-Flüchtlingen in ihren Ländern für untragbare Zustände sorgte. Am 11. September öffnete Ungarn offiziell die Grenze für DDR-Bürger. Innerhalb von drei Tagen flohen 15.000 in den Westen. Die DDR-Medien, die sich bis dahin in Schweigen gehüllt hatten, warteten mit einer berühmt gewordenen Geschichte vom Mitropa-Koch auf, der angeblich in Ungarn mit Menthol-Zigaretten betäubt und nach Österreich entführt worden war. Es war nur noch peinlich.

Das Informationsdefizit wurde von den westdeutschen Sendern kompensiert, die in Permanenz berichteten und die Sogwirkung des Flüchtlingsstroms verstärkten. Er riß in Betrieben, Arztpraxen, im Bekannten- und Freundeskreis Lücke um Lücke. Im Land herrschte eine übernervöse, fiebrige Stimmung. Die allgemeine Demoralisierung ergriff sogar die Staatsdiener, die Loyalitäten lockerten sich. Die Zurückgebliebenen stellten sich die Frage, ob die ironische Auflösung des Kürzels „DDR“ als „Der Dumme Rest“ nicht tatsächlich auf sie zuzutreffen drohte. Und während auch treue Parteigenossen nachts in die Kissen heulten, weil ihre Kinder in den Westen gegangen waren und sie nicht wußten, ob und wann sie sie wiedersehen würden, traf Erich Honecker mit untrüglichem Instinkt erneut den falschen Ton. Über die Hauptnachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ ließ er verbreiten, man solle den Geflüchteten „keine Träne nachweinen“. Wenige Wochen später sollten die Worte böse auf ihn zurückschlagen.

Die Sitzungsprotokolle des SED-Politbüros und der Stasi-Führung aus jener Zeit sind Dokumente der Ratlosigkeit. Die Funktionäre rätselten, ob die Unzufriedenheit von den fehlenden Autoersatzteilen oder eher vom Mangel an Bananen herrührte. Keiner wagte auszusprechen, was allen als Ahnung im Nacken saß: Daß es sich um eine Systemkrise handelte, in der sie das Problem, aber nicht mehr die Lösung waren. Zu retten gab für sie nichts mehr.