© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Mit einem strengen Geist der Weltangst trotzen
Dreifacher Verrat: Der russische Philosoph Nikolai A. Berdiajew macht sich Gedanken über das Bürgertum im Christentum
Werner Olles

Bis heute zählt Nikolai Alexandrowitsch Berdiajew zu den wenig bekannten russischen Autoren und Philosophen. Am 6. März 1874 in Obuchowo im Gouvernement Kiew in einer Adelsfamilie geboren, studierte er an der Universität Kiew, bekannte sich schon früh zum Marxismus und wurde 1898 für drei Jahre in die Verbannung geschickt. Inspiriert von Wladimir Solowjew fand er den Weg zum russisch-orthodoxen Christentum. 1922 galt er bereits als „mißliebiger Intellektueller“, und die bolschewistische Führung Sowjetrußlands brachte ihn im Zuge der Aktion „Philosophenschiff“ außer Landes. Berdiajew ließ sich in Berlin nieder und begegnete hier so bedeutenden Intellektuellen wie Oswald Spengler, Max Scheler und Paul Tillich. 1931 verfaßte er den Aufsatz „Von der Würde des Christentums und der Unwürde der Christen“, der wie alle seine Werke im Dritten Reich aufgrund seiner „probolschewistischen Einstellung“ verboten wurde und erst 1936 in der Schweiz in deutscher Übersetzung erschien. Zwei Jahre später zog er nach Paris. Am 23. März 1948 verstarb er in Clamart im Département Hauts-de-Seine nahe Paris im Alter von 74 Jahren. 

Vertrauen auf die Lehre Christi 

In seinem Vorwort schreibt Pater Michael Weigl, daß Berdiajews Auffassungen gerade heute wegweisend in der Auseinandersetzung zwischen Anpassung an die Welt und authentischem Christentum sind. Ob Kommunist, Nationalsozialist oder kirchlicher Modernist: „Das Denkmuster ist immer gleich banal.“ Das gleiche finde sich beim Feminismus bis hin zum Gender-Mainstreaming. Der kommende Zusammenprall von Islam und einem bourgeoisen Christentum von „Welt-Spießbürgern“ ohne Identität und Persönlichkeit im Berdiajewschen Sinne „wird jedenfalls spannend, aber keinesfalls trostreich“.

Sentimentale und schöngeistige Illusionen, wie sie das modernistische Christentum verkündet, haben bei Berdiajew keinen Platz: „Die harte Realität zerreibt die zarten Gefühle und feinen Erlebnisse. Nur ein strenger und abgehärteter Geist vermag der anbrechenden Weltangst zu trotzen.“ Für ihn zeigt dies den einzigen Weg, das Christentum zu verteidigen: „Wir dürfen nicht nach den äußeren Tatsachen urteilen, nach den Leidenschaften und menschlichen Sünden, die die Erscheinung des Christentums fortwährend entstellen. Das Christentum ist gekommen, um die Kranken zu heilen, nicht aber die Gesunden, um die Sünder zu retten, nicht aber die Gerechten. (…) Die christliche Menschheit hat in ihrer Geschichte einen dreifachen Verrat am Christentum geübt. Zum ersten hat sie das Christentum entstellt, dann hat sie sich von ihm gelöst und endlich begann sie das Christentum zu hassen für das Übel, das von ihr selbst ins Leben gerufen wurde.“

Mit Léon Bloy sieht er den bürgerlichen Geist dem Geist des Absoluten entgegengesetzt: „Er ist der Vernichter des Ewigen.“ Ein Bürger kann auch religiös sein, aber Bloy haßt diese bürgerliche Religiosität mehr noch als den Atheismus, weil sie die pharisäische Gerechtigkeit vorzieht. Es sind die Bürger, an die sich Jesus Christus wendet: „Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren werden wohl eher ins Himmelreich kommen denn ihr.“

Das uneingeschränkte Bekenntnis des Bürgers zur Religion der irdischen Herrschaft, der irdischen Paradiese, der irdischen Glückseligkeit ist selbst eine bürgerliche Idee, während das Gefühl der tragischen Schuld und der Sünde erloschen oder geschwächt ist. Doch ist dies nichts anderes als die Nichtannahme Jesu Christi, „nichts anderes als seine Kreuzigung“. Dies ist „die geistige Situation der modernen Welt. Sozialismus, Liberalismus und Modernismus brechen auch in Kreisen des Katholizismus durch.“ Wir haben keinen Grund, optimistisch zu sein, schreibt Berdiajew: „Die Sünde, die Lüge und die bösen Mächte haben viele Siege davongetragen. Die zerstörenden Energien sind zutiefst in unser Leben eingedrungen.“ Doch „wir fühlen und sehen, daß wir nicht verlassen sind. Gott wirkt in dieser Welt. Nur in Christus wird das Antlitz des Menschen gerettet. Weder die anthropozentrische Bildung noch die proletarische technizistische Zivilisation, nur die Lehre Christi – und sie allein – vermag dieses letzte Problem zu lösen.“

Nikolai A. Berdiajew: Im Herzen die Freiheit. Das Bürgertum zwischen Sinnsuche und Selbstgeißelung. Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2018, broschiert, 104 Seiten, 12 Euro