© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Willkommen, liebe Landsleute
Vor 30 Jahren erzwangen Tausende DDR-Flüchtlinge ihre Ausreise in den Westen: Einer, der damals dabei war, erzählt
Christian Rudolf

Zum letzten, aber wirklich allerletzten Mal sind die Prager Botschaftsflüchtlinge eingesperrt und der Willkür des DDR-Regimes ausgeliefert. In der Enge der vollbesetzten, schummrig beleuchteten Reichsbahnwaggons, die verriegelt nachts durch die DDR fahren, über eine abgesperrte Strecke und geräumte Bahnhöfe, bewacht von Transportpolizei, SED-treuen Betriebskampfgruppen und NVA. Bad Schandau, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Plauen. Das Ziel der Fahrt war die Bundesrepublik, die ersehnte Freiheit. Offiziere der Staatssicherheit sind mit im Zug, nehmen den Noch-DDR-Bürgern die Ausweise ab, wecken Kinder, blaffen und drohen. Vielleicht war alles doch ein Trick, eine böse Falle? Gesichtskontrolle, Einschüchterung, Demütigung, einmal noch. „Wir wurden im Zug in Reichenbach ausgebürgert. Einseitig, entgegen der Vereinbarungen mit der Bundesregierung. Es war ein letztes Mal, daß die Stasi uns ihre Macht spüren lassen wollte.“

Einer der Mitreisenden ist Christian Bürger. Er erinnert sich auch nach dreißig Jahren noch, als ob es heute wäre. Als der Sonderzug den DDR-Grenzbahnhof Gutenfürst passiert, löst sich die Anspannung. Morgens um 6.14 Uhr läuft der erste von sechs Personenzügen im Bahnhof des bayerischen Hof ein. Die Menschen lehnen sich aus den Abteilfenstern, winken, lachen, strahlen, formen mit Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen. Es ist geschafft! Befreiter Jubel bricht sich Bahn, der sich mischt mit der Freude der Menschenmenge auf dem Bahnsteig, die ihre Landsleute aus dem Osten erwarten. Ausgestreckte Hände, Umarmungen, Tränen der Erleichterung, allerherzlichste Willkommensworte. Eine kleine, sehr menschliche, lokale Wiedervereinigung Anfang Oktober 1989, als noch niemand ahnte, was ein Jahr darauf Wirklichkeit werden sollte. „Der Empfang war wirklich gigantisch“, berichtet Bürger der JUNGEN FREIHEIT. „Da war so eine Brücke über die Gleise, die war voller winkender Menschen!“

Daß alles so gut ausgehen würde, konnte Bürger nur hoffen, nicht wissen. Der damals 33jährige lebt als Bürger dritter Klasse in Karl-Marx-Stadt. Er hat einen Ausreiseantrag, einen Fluchtversuch aus der DDR, Stasi-Isohaft, Verurteilung und Zuchthaus in Cottbus hinter sich – „ein Kinderfreund hat unsere Gruppe verraten“. Nur wegen einer Amnestie für politische Gefangene im Gegenzug für Milliardenkredite aus Bonn an die marode DDR wird er 1987 vorzeitig entlassen. Aber eine Zukunft ist für jemanden wie ihn nicht vorgesehen. „Ich war früher in der Jungen Gemeinde, dadurch schon suspekt. Ich gehörte nicht zur sozialistischen Gesellschaft, ich war ein Freigeist, habe nachgefragt, die Widersprüche zwischen Propaganda und Realität benannt.“ Ein Jugendfoto zeigt ihn mit langen Haaren und pechschwarzer Kluft. „Ich bin beizeiten schon angeeckt.“ Der ersehnte Studienplatz für Kulturwissenschaften in Meißen wird ihm verwehrt. „Es war ja alles reglementiert.“

1989 arbeitet er schon das zweite Jahr auf einer zwangsweise zugewiesenen Stelle im VEB Barkas-Werke seiner Heimatstadt und hat sich zweimal wöchentlich bei der Polizei zu melden. „Ich war sozial völlig isoliert“, schildert Bürger seine Lage. Statt eines Personalausweises hat er einen PM-12. Der Ersatz-Ausweis markiert ihn als „Staatsfeind“. „Da wußte jeder Bescheid, was los ist.“ Mit dem Papier eine Auslandsreise: ausgeschlossen.

„Ihr seid für uns keine Flüchtlinge, sondern Gäste“

Bürger will frei atmen, will Zukunft. Als er im Mai 1989 aus dem westdeutschen Fernsehen erfährt, daß DDR-Ausreisewillige in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag Zuflucht finden, begreift er seine Chance. Am 20. Juni fährt er nach Oberwiesenthal im Erzgebirge, schleicht sich nachts im Tarnanzug über die bewachte Staatsgrenze in die sozialistische CSSR. Als Tourist aufgemacht mit baumelndem Fotoapparat gelangt er mit dem Linienbus unbehelligt nach Prag. Den Weg vom Wenzelsplatz zur bundesdeutschen Botschaft – Google-Maps war noch nicht erfunden – zeigt ihm ein hilfsbereites Ehepaar aus Westdeutschland, das gleich begreift, warum der junge Mann mit dem sächsischen Idiom danach fragt.

Die schmalen Straßen auf der Prager Kleinseite schlendert er unauffällig entlang. Als kurz vor dem Palais Lobkowicz, der Bonner Auslandsvertretung, ein tschechischer Milizionär auf ihn zukommt, rennt er, was er rennen kann, die letzten Meter, hechtet durch das damals offenstehende Tor und pocht atemlos an die Pförtnerloge: „Mein Name ist Christian Bürger! Ich komme aus der DDR und bitte um Asyl!“ Und wiederholt immer wieder: „Ich gehe hier nicht wieder weg!“

Botschaften gewähren kein Asyl, aber Bürger ist Deutscher, Bonn auch für ihn verantwortlich. Genau wie für die 40 weiteren DDR-Flüchtlinge, die in den leergeräumten Nebengebäuden untergebracht sind. „‘Ihr seid für uns keine Flüchtlinge’“, erinnert sich Bürger an den Zuspruch des damaligen Botschafters Hermann Huber, „‘sondern Gäste’.“

Der Sommer ’89 ist heiß. Peu à peu kommen neue Flüchtlinge. Bürger weiß, daß über die Bundesbotschaften in Prag, Warschau oder Budapest bisher noch jeder in den Westen gelangt ist. Aber wann? „Als wir hundert Leute waren, kam der Weber zu uns und sagte, wir brauchen einen Lagerleiter.“ Hans-Joachim Weber ist der für DDR-Flüchtlinge zuständige Botschaftsmitarbeiter. Die Schicksalsgenossen wählen Bürger zu ihrem Verbindungsmann zur Botschaft. Bürger gibt mit zuverlässigen Mitstreitern Essen aus, weist Neuankömmlinge ein, organisiert Unterricht für die Kinder, erstellt Einkaufslisten, meldet notwendige Arztbesuche. Die Mitarbeiter der Botschaft stellen einige Bibeln zur Verfügung. „Dann haben wir uns hin und wieder in einem der Zelte getroffen und gemeinsam gebetet“, schildert Bürger. Ein junges Ehepaar aus Thüringen improvisiert manchmal eine Art Predigt.

Der Zustrom schwillt an. Anfang September sind sie schon 200, täglich kommen bis zu 50 neue. Im großen Garten des barocken Prachtbaus werden erste Zelte aufgestellt. Lagerleiter Bürger bezieht ein eigenes Büro mit Schreibmaschine und registriert die Flüchtlinge. Mitte September haben 500 DDR-Bürger vor dem SED-Regime Zuflucht im Palais Lobkowicz gefunden. Dessen hohe, feine Räume sind mit Doppelstockbetten vollgestellt. Gepäck stapelt sich. Es wird eng. Im Garten steht ein einziger Toilettenwagen, bietet 22 Klos und Waschräume. Die Menschen stehen stundenlang für ihre Notdurft an. 

„Freiheit! Freiheit“ schallt es. Dann bricht der Jubel los

„Wir waren nicht ausgebildete Jugendherbergsleiter, wir waren Diplomaten“, erinnert sich der damalige Presseattaché der Botschaft Michael Steiner in einer Dokumentation. „Und plötzlich fanden wir uns in der Rolle einer riesigen Jugendherberge wieder.“ Das Rote Kreuz und die Bundeswehr schicken Zelte und Freiwillige für die Suppenküche.

„Der Ansturm ab Mitte des Monats war enorm“, berichtet Bürger der JF. Schlimm wird es, als das Wetter umschlägt. Es regnet, und es ist kalt. Die Menschen waten im Schlamm des niedergetrampelten Gartens. In 25-Mann-Zelten hausen 50 Personen, die in drei Schichten schlafen müssen. In den Prunksälen des Palais, auf den Fluren sitzen Mütter mit Kleinkindern, auf den Treppen liegen je zwei Personen.

Weil die CSSR die Kontrollen an der Grenze zu Ungarn verschärft, wird nun die Prager Botschaft zum ultimativen Sammelpunkt für DDR-Flüchtlinge. Am 20. September schließt die Bonner Botschaft in Warschau wegen Überfüllung ihre Tore. Der Prager Botschafter Huber verfügt etwas anderes: Keiner soll abgewiesen werden, alle können kommen. Bürger hört von ihm, daß Bonns Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit Ost-Berlin über eine gute Lösung für die DDR-Bürger verhandelt. Die Stimmung unter den Massen auf engem Raum ist angespannt, Kinder haben Durchfall, die Angst vor der Ruhr geht um. Manchem liegen die Nerven blank. „Wir wollten selbstbestimmt und frei sein. Und wir waren zum Äußersten entschlossen. Das hat uns aufrecht gehalten“, faßt Christian Bürger die Atmosphäre zusammen.

Anwalt Wolfgang Vogel, Honeckers Spezialist für heikle Fälle, taucht am 24. im Palais Lobkowicz auf, in Begleitung eines gewissen Gregor Gysi. „Der hat nicht ein Wort gesagt, nur der Vogel hat geredet“, erinnert sich der Lagersprecher an den damals noch völlig unbekannten Ost-Berliner Anwalt. „Der versteckte sich halb hinter einer Akte.“ Vogel versucht, die Menschen in die DDR zurückzuholen, bietet an, deren Ausreiseanträge würden wohlwollend geprüft. Er wird ausgepfiffen und ausgebuht. „Ein Witz“ sei Vogels Anerbieten gewesen, kommentiert Bürger heute. Von 1.300 Menschen geben 200 auf, vor allem Familien mit Kindern. „Die Frist für die Ausreise in die Bundesrepublik war einfach zu lang und zu ungewiß“, begründete Bürger damals in einem „Tagesschau“-Interview durch den Zaun die breite Ablehnung von Vogels Angebot.

Zur selben Zeit, als vorne durch das Tor einige wenige abreisen, gelangen von hinten Hunderte neue Füchtlinge auf das rettende Botschaftsgelände. Sie werfen Koffer über den Zaun, reichen Babykarren hoch, helfende Hände formen Kletterleitern und fangen Kinder auf. Die Fotos von den am Zaun sich festkrallenden DDR-Flüchtlingen sind zu Ikonen deutschen Freiheitswillens geworden. Auf den Straßen unterhalb der Prager Burg parken zurückgelassene Trabis und Wartburgs.

Am 29. September ist das Palais Lobkowicz zum Platzen voll, 5.000 Deutsche drängen sich auf Fluren und im Garten. Bürger erfährt als Lagersprecher von Flüchtlingskoordinator Weber, daß Genscher am Rande der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York über eine humanitäre Lösung des  deutschen Dramas von Prag verhandelt. Die Entscheidung fällt in Moskau, der Kreml macht den Betonköpfen in Ost-Berlin eine klare Ansage.

Der Rest gehört zu den glücklichsten Momenten der jüngeren deutschen Geschichte. Genscher und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters treffen am 30. September in Prag ein. „Freiheit, Freiheit!“ schallt es ihnen entgegen. Eine Stehlampe aus Hubers Büro beleuchtet spärlich den Balkon des Palais, von dem Genscher zu den „lieben Landsleuten“ spricht: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise ...“ Der Rest des Satzes geht in Jubel und Freudenschreien unter. 5.000 DDR-Deutsche steigen noch in derselben Nacht am Bahnhof Praha-Liben in die Züge in die Freiheit. Christian Bürger sitzt im letzten.

Anfang 1989

Dutzende Flüchtlinge aus der DDR suchen in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag Zuflucht, um die Genehmigung ihrer Ausreiseanträge zu erzwingen. DDR-Unterhändler überreden sie zur Heimreise in die DDR.

Juni 1989

Der Eiserne Vorhang wird löchrig: Die Außenminister von Ungarn und Österreich zerschneiden am 27. Juni symbolisch den Stacheldraht an der gemeinsamen Grenze.

Juli 1989

Über 21.000 DDR-Bürgern gelingen Flucht oder Ausreise in den Westen. In den deutschen Botschaften von Budapest, Warschau und Prag suchen mehr und mehr Flüchtlinge Schutz.

August – September 1989

Im August gehen 33.000 Menschen aus der DDR fort. 10. September: Ungarn öffnet die Grenzen. 20. September: Die BRD-Botschaft in Warschau schließt, Prag bleibt offen und wird überrannt.

30. September

Auf Druck aus Moskau hin lenkt die DDR im Botschaftskonflikt ein: Bundesaußenminister Genscher verkündet in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsflüchtlinge. 

30. September /

1. Oktober

Sonderzüge bringen etwa 5.000 DDR-Bürger aus Prag nach dem Westen. Bedingung Ost-Berlins: Die Fahrt geht über DDR-Gebiet.