© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Die Aura des Außenseiters
Filmbiographie: „Nurejew – The White Crow“ von Ralph Fiennes startet im Kino
Dietmar Mehrens

Als man ihm am Pariser Flughafen Le Bourget eröffnet, daß er nicht mit dem Rest der Truppe nach London weiterreisen darf, weil er eine Privatvorstellung für den sowjetischen Staats- und Parteichef Chruschtschow geben soll, gerät er in Panik. Hat er während seines Paris-Aufenthalts zu sehr über die Stränge geschlagen. Will man ihn jetzt kaltstellen? Der umjubelte Tänzer des russischen Kirow-Balletts wendet sich an zwei französische Polizeibeamte und spricht die folgenschweren Worte: „Mein Name ist Rudolf Nurejew und ich bitte um politisches Asyl.“

Mit dem aufsehenerregenden Zwischenfall am Flugsteig von Le Bourget 1961 läßt Ralph Fiennes seinen Film in einem dramatischen Herzschlagfinale gipfeln. Daß es zu dieser Flucht kommen wird, ist allerdings von Anfang an klar. Fiennes selbst, der Nurejews Tanzlehrer Alexander Puschkin verkörpert, eröffnet den Film: Er muß sich einem Verhör stellen, das die Ursachen und Hintergründe der Flucht klären soll. 

Rudolf Nurejew ist eine Ballett-Legende. Der 1993 verstorbene Russe gilt als einer der virtuosesten Tanzkünstler aller Zeiten. Seine Bewegungen sind nicht das Geheimnis seines Erfolges, die sind eher ein wenig linkisch, muß er sich im Film vorhalten lassen, aber das spielt keine Rolle. Denn Nurejew umgibt eine Aura. Er verfügt über das, was oft wichtiger ist als Talent: Charisma.

Schon als Kind fiel der exzentrische Tänzer aus dem Rahmen, war verschlossen, blieb meistens für sich. Die „weiße Krähe“ ist eine höfliche Umschreibung für Außenseiter. Die Familie, in der er aufwächst, bettelarm, läßt keine großen Sprünge erwarten, weder auf der Bühne noch anderswo. Und so ist Nurejews erste Begegnung mit der Welt des künstlerischen Tanzes einem seltenen Glücksfall zu verdanken: Die Mutter gewinnt in einer Lotterie eine Eintrittskarte fürs Ballett und nimmt die Kinder mit. Der junge Rudolf ist fasziniert.

Der Film des englischen Schauspielers Ralph Fiennes, der durch seine Rolle als Lagerkommandant Amon Göth in Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) sowie durch die Literaturverfilmung „Der englische Patient“ (1996) berühmt wurde, ist aber keine neue „Billy Elliot“-Mutmachgeschichte, sondern ein ziemlich sprödes Künstlerporträt, das eng an seiner Hauptfigur bleibt. Es bietet sich mithin eher der Vergleich mit Woody Allens „Sweet and Lowdown“ (1999) an. Dort war es Sean Penn, der einem ebenso exzentrischen wie narzißtischen Künstler, einem Jazzmusiker, Leinwandleben einhauchte, hier ist es der ukrainische Ballettänzer Oleg Ivenko. In „Nurejew“ gibt er sein Leinwanddebüt.

Die Montage wirkt mal raffiniert, mal uninspiriert

Dem Hauptdarsteller dürfte es nicht schwergefallen sein, sich in die Figur des großen Vorbilds hineinzuversetzen: Auch seine Ballettkarriere begann in Choreographieschulen und führte schließlich 2016 auf eine Europatournee. Mit derselben Präsenz, die Nurejew bescheinigt wurde, verleiht er der Figur des zu manisch-aggressiven Ausbrüchen neigenden Künstlers die Lebendigkeit und Stimmigkeit, die nötig sind, damit der Zuschauer vergißt, daß ihm hier nur etwas vorgespielt wird.

Obwohl Nurejew an der Seite seiner Eroberung Clara Saint in Paris ganz schön die Korken knallen läßt, fehlt es dem Film an Spritzigkeit und Entspanntheit. Das mag daran liegen, daß Fiennes die lastende Schwermut, die das Klima der Repression und Unfreiheit in der Sowjetunion der Stalin-Ära und Nach-Stalin-Ära erzeugte, in trüben, farblosen Bildern einfängt. Einige von ihnen entstanden an Originalschauplätzen in St. Petersburg. In verwirrender Folge reiht der Brite Szenen aus Nurejews von Vaterverlusterfahrungen geprägter Jugend, von seinen Anfängen im Leningrader Choreographischen Institut und von seiner Auftrittsreise nach Paris aneinander. „In unseren Diskussionen“, erklärt der Regisseur dieses Vorgehen, „schälte sich eine Struktur mit drei Zeitebenen heraus: Paris 1961, die Leningrader Jahre von 1955 bis 1961 und die Kindheitsjahre in den späten 1940ern.“

Die daraus resultierende Montage wirkt mal raffiniert, mal uninspiriert. Nicht immer drängt sich dem Zuschauer das Gefühl auf, daß hinter der Szenenfolge ein vollends ausgereifter dramaturgischer Plan steckt. Kühl und lakonisch werden der Seitensprung mit der Frau seines Tanzlehrers Puschkin, eine homoerotische Affäre mit einem deutschen Kollegen (Louis Hofmann) und Anekdoten aus Nurejews Kindheit nebeneinandergestellt. 

Fiennes will zeigen, daß sich Nurejews Flucht im Juni 1961 aus der Persönlichkeitsentwicklung des Tänzers, deren symptomatischste Stationen die Rückblenden zeigen, zwingend ergibt. Doch es ist dem Regisseur nicht gelungen, aus der weniger dramatischen Vorgeschichte des Fluchtversuchs die kleineren Dramen herauszufiltern und dem Film so über die gesamte Spieldauer Spannung zu verleihen. Gleichwohl ist dieses akribisch vorbereitete und inszenierte Porträt eines Ausnahmetalents sehenswert – wegen der überragenden Bühnenpräsenz Nurejews, die sein Darsteller auf faszinierende Weise in Leinwandpräsenz zu überführen versteht.