© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Niederschmetternde Bilanz für Bismarcks Erben
„Dienende Führung“ einer Zivilmacht: Die „neue Geopolitik“ schreibt die alte Agenda deutscher Selbstauflösung fort
Dirk Glaser

Geographen wie Friedrich Ratzel (1844–1904) und Karl Haushofer (1869–1946) definierten die von ihnen kreierte Subdisziplin der Geopolitik als Lehre von räumlicher Bedingtheit staatlicher Existenz. Wie von selbst ergab sich daraus zur imperialistischen Blütezeit die sozialdarwinistische Zuspitzung, wonach Weltpolitik Staatenkampf um Lebensraum sei. Auf den Gedanken, daß die Welthistorie mit der Machtkonkurrenz um Territorien identisch ist, durften Ratzel, Haushofer oder andere deutsche Geostrategen allerdings kein Patent anmelden. Angelsächsische Zeitgenossen wie Alfred Thayer Mahan und Halford John Mackinder mit ihren Theorien über das Gewicht von Seemacht oder die Bedeutung von „Kernräumen“ zur Sicherung von „Welthegemonie“ standen ihnen in nichts nach, konnten mit ihren Ideen sogar nachhaltiger die  außenpolitischen Praktiker Washingtons und Londons beeinflussen.

Außerhalb Deutschlands ist denn auch geopolitisches Denken in den Kategorien von Staat, Souveränität, „Raumhoheit“ (Carl Schmitt), Grenze, Macht, Interessen, Freund und Feind seit den Tagen von Mahan und Mackinder nie aus der Mode gekommen. Hierzulande hingegen brach die Tradition mit Karl Haushofer, der 1946 den Freitod wählte, nach dem Zweiten Weltkrieg abrupt ab. Zum einen, weil die Geopolitik als angeblich Raum mit Rasse verknüpfender Stichwortgeber der NS-Lebensraumideologie als diskreditiert galt. Zum anderen, weil es im geteilten Deutschland kein geopolitisch handlungsfähiges Subjekt mehr gab. Denn die DDR und die alte BRD waren nicht souverän und übten sich in machtpolitischer Abstinenz. 

Global Governance nicht für praktische Politik geeignet

Derart über Jahrzehnte konditioniert, überhört das Politpersonal der Berliner Republik geflissentlich den seit der Wiedervereinigung erklingenden „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann). Sich in der Illusion wiegend, „von Freunden umzingelt“ zu sein, wie es Helmut Kohl formulierte, der „Kanzler der Einheit“, dem die Preisgabe der D-Mark und die Einschmelzung der Nation „in Europa“ gar nicht schnell genug gehen konnte. Sein damaliger Adlatus Wolfgang Schäuble ist bis heute froh darüber, daß „wir“ seit 70 Jahren nicht eine Minute selbstbestimmt zu handeln brauchten. Zumal, wie er redselig kundtut, für „uns“ Souveränität nicht so wichtig sei wie etwa für Briten und Franzosen. Nach dem im „Willkommenssommer“ 2015 proklamierten Abschied von Staatsvolk und Staatsgebiet, ist dieser Verzicht auf das dritte wesentliche Element souveräner Staatlichkeit, die Staatsgewalt, zumindest folgerichtig.     

Stattdessen sucht die postnationale Außenpolitik der unterwürfigen Berliner „Zivilmacht“ ihr Heil unter dem Dach des von der EU- und UN-Diplomaten nach Vorgaben der One-World-Architekten des Davoser Weltwirtschaftsforums konzipierten „kooperativen Multilateralismus“ und der „Global Governance“. Was leider „einen gewissen Drall ins Utopische“ bekommen habe, wie Herfried Münkler nun zerknirscht beklagt. Dabei gehörte der Berliner Politikwissenschaftler bislang zur Heerschar regierungsfrommer Kommentatoren, die den weltweit einzigartigen bundesdeutschen Sonderweg nationaler Selbstauflösung wohlwollend begleiteten.

Warum Münkler und einige mit ihm stark in der Politikberatung engagierte Kollegen jetzt plötzlich entdecken, daß die verinnerlichten Paradigmen von Global Governance und „globaler Normenordnung“ wohl zu „akademisch“ seien, sich für die „praktische Politik“ nicht eignen und „geopolitisch komplettiert“ werden sollten, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht weil die Zahl der „dramatischen Krisen täglich zunimmt“, wie der in der Wolle gefärbte Atlantiker Jan Techau vom German Marshall Fund behauptet. Jedenfalls glauben weder Münkler noch Techau, noch die anderen Politologen, die sich im Themenheft „Neue Geopolitik“ des Magazins Politikum (2/2019) zu Wort melden, daß die Bundesrepublik ihnen weiterhin mit kindischen Beschwörungen des „Multilateralismus“ gewachsen ist, während US-Amerikaner, Chinesen und Russen „bedingungslos“ an der „Idee der Souveränität und also an der Ordnung stiftenden Kraft von Grenzen festhalten“.  

Techau, als Tagesspiegel-Kolumnist und Aussteller des dem Auswärtigen Amt verabfolgten famosen Placebo-Rezepts vom „dienenden Führen“ („Führungsmacht Deutschland. Strategie ohne Angst und Anma[a]ßung“, 2017) mehr „Hofnarr“ (kokettes Selbstlob) als Querdenker, ist trotzdem fähig, eine Bilanz zu ziehen, wie sie für die unwürdigen Erben Bismarcks niederschmetternder nicht sein könnte. Denn die „zentralen Grundannahmen“ von deren Außenpolitik, da gebe es kein Vertun, würden nun einmal durch die derzeit sich vollziehenden weltpolitischen Umbrüche erschüttert und abgeräumt. 

Als Mutter aller Irrtümer erweise sich das hingebungsvoll gepäppelte kosmopolitische Dogma vom „überlebten Nationalstaat“. Nein, „die Nation ist nicht tot, sondern quicklebendig“. Daher sei es „gar keine schlechte Idee, eine einsatzfähige Armee zu unterhalten“. Denn Wehrhaftigkeit sei nicht, wie es das pazifistische Mantra suggeriere, der Feind des Friedens, sondern seine Voraussetzung. Eine Einsicht, der sich Kanzleramt und AA um so weniger verschließen dürften, als sich deren Spekulation auf das „Ende der Geschichte“ durch Globalisierung als Seifenblase entpuppt habe. Hätten sich doch Rußland und China partout nicht zum „westlichen Politikmodell bekehren lassen“. Zu schweigen vom, menschenrechtlich betrachtet, Archipel Gulag der islamischen Welt, den Techau freilich nicht einmal mit spitzen Fingern anzufassen wagt.

Um stattdessen Berlins Lieblingsprojekt, den europäischen Bundesstaat, mit „mangelhaft“ zu benoten. Das befinde sich in einem kritischen Stadium, weit entfernt von der Verheißung des im EU-Superstaat garantierten „immerwährenden Friedens“. Die „geballte Wucht der neuen strategischen Weltlage“ treffe heute bereits auf Brüssels „geschwächtes politisches Ankersystem“, das mahne, wie wenig „irreversibel“ der Integrationsprozeß sei. Deshalb bedürfe es „ständiger massiver finanzieller und politischer Investitionen“. Auch in den Euro. Deutschland werde für die Einheitswährung noch mehr zahlen müssen, „weil es auch am meisten profitiert“.

Spätestens hier ist klar, daß Techaus „neue Geopolitik“ die alte postnationale Agenda mit anderen Mitteln fortschreiben will. Die angemahnte Rückbesinnung auf mentale, ökonomische und militärische Ressourcen der Nation soll deren Kräfte nicht für eine selbstbestimmte politische Existenz mobilisieren, sondern „das Land für die neue Aufgabe“ ertüchtigen, „die es in Europa wahrnehmen muß“. Nicht, weil deutsche Außenpolitik keine nationalen Interessen mehr kennt, ist sie zu korrigieren, sondern weil sie diese nicht radikal genug verrät, um sich als „dienende Führungsmacht“ in der EU für den „Erhalt der globalen Ordnung“, sprich den Status quo der „globalen Plünderungsökonomie“ (Robert Kurz), einzusetzen. Das schließt für Techau die alternativlose Fortsetzung der Politik der Masseneinwanderung („Flüchtlinge“), geopolitisch natürlich alternativlos wegen der afrikanisch-orientalischen Nachbarschaft, genauso ein wie die „strategische Notwendigkeit“ eines EU-Beitritts der Türkei und die Stornierung des vorgeblich „Deutschlands Zuverlässigkeit zerstörenden Pipelineprojekts Nord Stream II“, das geopolitisch blind „Rußlands aggressiver Energieaußenpolitik“ auf den Leim gehe.

Allein an diesem Punkt legt Münkler, der sich ebenfalls ausschließlich um die „Selbstbehauptung der Europäer“ sorgt, sein Veto ein. Es wäre in deren „fundamentalem Interesse“, nähmen sie die „Phantomschmerzen der Russen“ ernst, wendeten ihren Blick von der „Wertekarte ab hin zur geopolitischen Karte“, akzeptierten, daß es „keine Möglichkeit gibt, die Krim zur Ukraine zurückzubringen“ und bemühten sich um ein auskömmliches Verhältnis mit Moskau. Um sich fortan auf die „großen geopolitischen Herausforderungen“ zu konzentrieren, die im Nahen Osten und in Afrika auf die EU warten. 

Europa als Satrapie des von China dominierten Eurasien

Wie das anzupacken ist, verrät Münkler nicht, der noch 2016 Angela Merkels totale Grenzöffnung enthusiastisch als „Chance“ pries, um aus jenen kulturfremden exotischen Regionen „neue Deutsche“ zu rekrutieren, und der jetzt einflüstert, wegen der Aufnahme der Türkei in die EU bitte nicht zu viel über „Fragen kultureller Nähe“ nachzudenken. Obwohl selbst Techau noch Restskrupel bei dem Szenario plagen, die Türkei als EU-Mitglied, „mit der größten Armee Europas“ und „konfessionellem Einfluß auf ihre „Diasporabevölkerungen in ganz Europa“, könne die Machtbalance auf dem alten Kontinent „nicht unberührt lassen“. Was sich hier artikuliert, ist geopolitische Reflexion auf Sparflamme. Davon zeugen auch die Vorschläge Josef Bramls, Trump-Hasser und „USA-Experte“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Um in Zeiten des „globalen Ausnahmezustands“ gerüstet zu sein, sollte die EU endlich zur politischen Union umgebaut werden, inklusive Bankenunion, gemeinsamer Arbeitslosen- und Einlagenversicherung, europäischem Finanzminister. 

Fassungslos legte man dieses Politikum-Heft beiseite, enthielte es nicht doch einige realistischere Lageanalysen. So informiert Rudolf G. Adam, Publizist und ehemaliger Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes, über die militärische Geopolitik, die sich zukünftig auf das nukleare Potential von Mittelstreckensystemen stütze, was die Führung regionaler Atomkriege ermögliche. Und er berührt als einziger den „Migrationsdruck aus Afrika“, ist allerdings unschlüssig, wie dem zu begegnen sei. Sicher sei nur, daß der auch deshalb zunehmen werde, weil Chinas Landkäufe dem Kontinent Nahrungsgrundlagen entziehen. Womit der Bogen geschlagen ist zur wahrhaft „neuen Geopolitik“, Chinas globalem Netzwerk der „Neuen Seidenstraße“, das Nadine Godehardt und Paul J. Kohlenberg von der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik beleuchten. Aus Pekings Sicht, so ihr pointiertes Fazit, sei Europa bald nicht mehr als die westlichste Satrapie der von China beherrschten eurasischen Landmasse.