© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Psychotherapie für Staaten
Jared Diamond analysiert Krisenphänomene und deren historische Verarbeitung in verschiedenen Ländern
Felix Dirsch

Der Geograph, Genetiker und Anthropologe Jared Diamond hat bereits einige weltweit beachtete Studien vorgelegt, darunter „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“. Eine solche universalhistorische Perspektive läßt auch sein neues Buch erkennen, das wiewohl unausgesprochen an aktuellen, eher pessimistischen Stimmungslagen der westlich-liberalen Demokratie ansetzt.

Am Beginn der Studie erinnert Diamond an eine größere Brandkatastrophe in Boston, als er noch ein Kind war. Sie hinterließ nachhaltige Spuren. Der 82jährige präsentiert im einleitenden Kapitel eine Liste mit zwölf Punkten, die den üblichen Krisenverlauf beim Individuum untersucht, der natürlich nur eingeschränkt auf den von Staaten übertragen werden kann. Zuerst nennt der Autor die Einsicht in Krisen und deren Akzeptanz; es folgen Faktoren wie „Ich-Stärke“, Selbsteinschätzung und frühere Erfahrungen. Am Ende findet sich die „Freiheit von persönlichen Beschränkungen“. 

Danach versucht der Autor einen analytischen Brückenschlag zur politischen Welt. Zäsuren auf staatlicher Ebene müssen ebenfalls wie beim Einzelnen in Form eines Konsenses festgestellt und angenommen werden. Anstelle der persönlichen Identität ist im Verlauf einer staatlichen Krise die nationale und deren Ausprägung wichtig. Nationale Grundwerte sind analog zu den persönlichen zu sehen. Die Liste schließt mit der „Freiheit von geopolitischen Beschränkungen“.

Diese abstrakt-theoretischen Schemata sind hilfreich, wenn Diamond im folgenden Teil Krisenverläufe unterschiedlicher Gemeinwesen in Geschichte und Gegenwart untersucht. Die Auswahl ist persönlich gefärbt, der Autor kennt die Objekte der Erörterung zum Teil sehr gut. Anhand der finnischen Geschichte belegt er, wie der Winterkrieg 1939/40 gegen die Sowjetunion mit allen Folgen die spätere Geschichte des Landes geprägt hat. Mit Kriegerwitwen hat er sich noch Jahre später über die Ereignisse unterhalten.

Zu einer Wendung in der Geschichte Japans kam es infolge offenkundig überlegener westlicher Eindringlinge ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie zwangen das Land zu größeren Reformen. Die Zäsur von 1945 machte eine abermalige Neuausrichtung unumgänglich. Hatte Japan im 19. Jahrhundert westliche Technik übernommen, so nun das politische System. Dennoch fügte eine solche Anpassung dem eigenen Selbstwertgefühl relativ wenig Schaden zu. Zu den Verbrechen der Landsleute bekannten die Staatsmänner sich später höchstens halbherzig, standen doch die eigenen Opfer, vor allem die der beiden Atombombenabwürfe, im Mittelpunkt des Gedenkens. Der wirtschaftliche Aufstieg nach den Demütigungen als Verlierernation zeigt Affinitäten zu Deutschlands Erfolgen. Heute ist das Land immer noch ein ökonomischer Riese mit strukturellen Problemen wie Überalterung und hoher Staatsverschuldung. 

Deutschlands Wandlung zum Staat der „Weltretter“

Weiter wird die Geschichte Chiles, besonders die Zeit während und nach Pinochet, Australiens (insbesondere die Wende zum multiethnischen Gemeinwesen) und Indonesiens mit der Periode der „Lichtgestalten“ Sukarno und Suharto sowie die schwierige Phase danach unter die Lupe genommen. Natürlich geht Diamond auch auf Deutschlands Wandlungen ein. Hier ist der Umschwung des Pendels auf die andere Seite im Rahmen der historischen Aufarbeitung der NS-Diktatur außergewöhnlich. Das einst als nationalistisch-imperialistisch verschriene Volk mutierte zu einem Kollektiv, in dem längst „Weltretter“ das Sagen haben. 

Auch die Vereinigten Staaten werden einer eingehenden Prüfung unterzogen, Stärken und Schwächen der Weltmacht Nummer eins klar auf den Punkt gebracht. Im elften Kapitel wirft der Autor einen Blick auf wesentliche Problemfelder der heutigen Welt. So werden etwa Klimawandel und gesellschaftliche Ungleichheiten thematisiert. Manches kluge Urteil, wie Einwände gegen die oft fehlende Rücksichtnahme der USA gegenüber Rußland, die Abwägung der Vor- und Nachteile von Einwanderung oder das differenzierte Urteil über alternative Energiequellen, ist hervorzuheben. Diamond verbindet eine eher abstrakte Strukturanalyse mit einer narrativen Darstellungsweise. Lob verdient sein nüchterner Stil. 

Jared Diamond: Krise. Wie Nationen sich erneuern können. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, gebunden, 464 Seiten, 26 Euro