© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Wer hat’s erfunden?
Gastro-Klassiker: Die Currywurst feiert ihren 70. Geburtstag – Wenn man den Berlinern glaubt
Gil Barkei

Für die einen ist sie eine kulinarische Bankrotterklärung. Für die anderen traditionelles Kulturgut, ein Stück Heimat für den Gaumen: die Currywurst. Dieses Jahr feiert sie ihren 70. Geburtstag, quasi eine Zwillingsschwester der Bundesrepublik. Trotz des ehrenwerten Jubiläums ist ein Streit immer noch nicht beigelegt: Wer hat’s erfunden? Berlin, Hamburg und das Ruhrgebiet beanspruchen die Kreation des beliebten Fastfood-Klassikers hartnäckig für sich. 

Glaubt man der Berliner Geschichte, so kam die aus Königsberg stammende Herta Heuwer im September 1949 das erste Mal auf die Idee, eine Brühwurst mit einer pikanten Tomatensauce anzurichten. Ihren Imbißstand an der Kantstraße 101/Ecke Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg versah die gelernte Schneiderin später mit der Werbeschrift „1. Currywurst-Braterei der Welt: Eine von uns erdachte Berliner Spezialität“. 1959 ließ Heuwer, die Trümmerfrau und freiwillige Mitarbeiterin in der Berliner Küchenhilfe war, die Wort-Bild-Marke „Chillup“ für ihre „Spezial-Sosse“ eintragen.

Verneigung vor den Frauen des Wiederaufbaus

Woher jedoch dieser damals ungewöhnliche Gedanke, Wurst mit einer Tunke aus Tomatenmark, Curry und anderen – von jedem Anbieter streng gehüteten – Gewürzen zu übergießen? Eine Erklärung: der Einfluß der westalliierten Besatzungsmächte, die US-amerikanischen Ketchup und Relish-Pasten sowie Worcestersauce, Curry und Chili aus England beziehungsweise aus dem britischen Empire mitbrachten. 

So zeichnet es auch die Kult-Bude „Zur Bratpfanne“ in Berlin-Steglitz nach, die als Ein-Mann-Bockwurstverkauf von Günter Mosgraber im November 1949 vor dem berühmten Kino Titania-Palast startete, in dem 1951 die erste Berlinale stattfand. Mosgrabers Ehefrau Annemarie arbeitete damals als Hausangestellte bei einer Offiziersfamilie aus den Vereinigten Staaten und kam so mit den neuen Zutaten und Eßgewohnheiten in Berührung. Auch Herta Heuwers Mann arbeitete zu der Zeit für die US-Amerikaner.

Spricht alles für die Hauptstadt, möchte man meinen. Doch 1993 bringt der Hamburger Schriftsteller Uwe Timm Verwirrung in die Geschichtsschreibung. In seiner Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ schrieb er die Gastro-Revolution einer gewissen Lena Brücker zu, die bereits 1947 die Currywurst auf dem Großneumarkt in der Freien und Hansestadt erfunden habe. Zwar eine fiktive Geschichte und Verneigung vor allen „wunderbaren Frauen“ des Wiederaufbaus, allerdings beharrt Timm darauf, bereits 1947 an einem Imbißstand auf dem Großneumarkt persönlich einen solchen exotischen Gaumenschmaus gegessen zu haben. 2008 wird das Buch, das in erster Linie die Nachkriegsjahre zeichnet, verfilmt. 

In der Tat waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Eintopf- oder Wurststände die ersten gastronomischen Highlights in dem sich nur langsam von Zerstörung und Lebensmittelknappheit erholenden Land. Zudem boten sie insbesondere nach der Einführung der D-Mark 1948 den Bürgern die Möglichkeit, sich unternehmerisch zu betätigen und sich etwas zu gönnen. Die Option „ohne Darm“ stammt dennoch aus diesen darben Jahren, da Naturdarm damals nur schwer zu haben war. Das Produktionsverfahren hat der aus dem Erzgebirge nach Berlin-Spandau gezogene Schlachter Max Brückner entwickelt. Zusammen mit Frank Friedrich vertrieb er die „Spandauer ohne Pelle“, die nach Darstellung ihres Unternehmens „Maximilian“ den zweiten Grundstein darstellt für den Erfolg von Herta Heuwers Traum vom „Steak des kleinen Mannes“.

Heute ist die Currywurst, von der laut des 2018 geschlossenen „Currywurst Museums Berlin“ pro Jahr etwa 800 Millionen Exemplare in Deutschland verspeist werden (70 Millionen allein in Berlin), ein Gericht für jedermann und lockt selbst Spitzenköche weg von den Sternen zum Imbißgrill. Alt-Kanzler Gerhard Schröder ist bekennender Currywurst-Fan. Herbert Grönemeyer besang sie, als er noch nicht linke Phrasen auf Konzerten herumschrie, und prägte damit den Ruhrpottmythos.

In vielen Städten geht derweil der Zoff um den Ursprung in die nächste Runde: Wo gibt’s die beste Curry? In Berlin fast schon eine Frage der Kiez-Ehre, die regelmäßig in Lokalblättern und an Kneipentischen ausgefochten wird: „Bei Krasselt’s!“, „Quatsch, Curry 36 in Kreuzberg, trotz Touristen!“, „Blödsinn, ihr Wessis, Konnopke’s an der Schönhauser!“ Tatsächlich gilt Max Konnopke als Begründer der Ost-Berliner Currywurst. Bereits 1930 mit einem um den Hals gehängten Kessel gestartet, verkauft der Traditionsimbiß seit 1960 seine Currywurst mit „Ketchup nach Familienrezept“. 

Unabhängig davon, wo es „die Beste“ oder gemäß Chili-Wettkämpfen „die Schärfste“ gibt: viele Verkaufsbuden sind einmalige Orte, soziale Schmelztiegel zwischen Arm und Reich, liebgewonnene Institutionen für Anzug- wie für Blaumannträger. „Champagner und Currywurst?“ Zumindest bei „Biers Kudamm 195“ kein Problem. Hier und an anderen Ständen gern gesehener Gast: Entertainer Harald Juhnke, der sich mit dazugehörender „Molle“ (Bier) ablichten ließ und in Scetchen sein Berliner Original gegen fremde Dialekte verteidigte. Heute ist die Currywurst, die es mittlerweile mit Trüffel oder Blattgold und in Kantinen oder als Kühlregalware gibt, auf der ganzen Welt erhältlich, von London bis New York – ein Exportschlager des deutschen Wirtschaftswunders.