© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Die Karawane zieht weiter
SPD-Vorsitz: Favorit ist kaum auszumachen / Thema Migration bleibt außen vor / Jusos machen Druck
Björn Harms / Christian Vollradt

In rotes und violettes Licht ist die Braunschweiger Stadthalle getaucht, die aktuellen Parteifarben der SPD. Passend zum Anlaß, denn an diesem Abend macht die Tournee der Kandidaten für den Parteivorsitz Station in der Löwenstadt. Es ist die 17. von deutschlandweit 23 Regionalkonferenzen. Mit rund 800 Genossen ist der Saal gut gefüllt, für manche bietet sich die Gelegenheit, den einen oder anderen Bekannten wieder zu treffen. „Mal schauen, wer so da ist …“ – „Ah, da hinten sind die Gifhorner!“ Umarmungen, Schulterklopfen. In der ersten Reihe begrüßt sich die örtliche SPD-Prominenz mit Küßchen.

Wer noch fehlt, Punkt 18 Uhr? Die Kandidaten. „Das sind halt alles Akademiker, die kommen ’ne Viertelstunde zu spät“, meint ein Besucher spöttisch zu seinem Sitznachbarn. „Wir haben zu wenige Arbeiter in der Partei. Die wären gewohnt, pünktlich anzufangen“, gibt der mit einem Anflug von Sarkasmus zurück. Das Berufsleben, so der Eindruck, haben die meisten hier schon hinter oder aber dessen Ende bald vor sich. Graue Haare dominieren die Sitzreihen, unterbrochen von Grüppchen aus Jungsozialisten.

Gabriel gibt sein Bundestagsmandat ab

Als mit etwa zehn Minuten Verspätung die Kandidaten gemeinsam die Halle betreten, bekommt das zunächst keiner so richtig mit, etwas verzögert brandet der Applaus auf. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil begrüßt Kandidaten und Publikum, als SPD-Bezirksvorsitzender ist er Gastgeber des Abends. Heil macht Gästen wie Einheimischen bewußt, daß man sich hier in einer roten Region befindet. „Wir haben alle Bundestags- und Landtagsdirektmandate gewonnen, die SPD stellt die meisten Oberbürgermeister und Landräte.“ Balsam für die Seele einer ansonsten nicht gerade erfolgsverwöhnten Partei. 

Dabei hat – Zufall? – der prominenteste Sozialdemokrat der Region einen Tag vor der Braunschweiger Regionalkonferenz seinen Abschied aus der aktiven Politik verkündet: Sigmar Gabriel, Ex-Außenminister, Ex-SPD-Vorsitzender und Noch-Bundestagsabgeordneter im benachbarten Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel. Dieses direkt gewonnene Mandat gibt er nun ab. Gabriel beklagte seine fehlenden Möglichkeiten, in der SPD überhaupt noch zu arbeiten. „Ich konnte ja im Bundestag nicht mal mehr reden. In knapp zwei Jahren nur einmal“.

Seltsam mutet manchem auch der Kandidatenreigen an. Gabriels Nachfolger Martin Schulz trat als einziger an und bekam sagenhafte hundert Prozent. Lang ist’s her. Nun stellen sich sieben Doppelspitzen der Basis zur Wahl, ein Zeichen dafür, wie „demokratisch quicklebendig“ die SPD sei, lobt Heil. Doch wer die Frauen und Männer eigentlich sind, die sich für die Nachfolge von Andrea Nahles bewerben, scheint vielen außerhalb der „Blase SPD“ nicht ganz klar zu sein. 

Nur drei der 14 Bewerber auf den SPD-Vorsitz sind laut einer Umfrage der Mehrheit der deutschen Wahlberechtigten bekannt. Im „RTL/n-tv-Trendbarometer“ gaben 88 Prozent der Befragten an, Vizekanzler Olaf Scholz zu kennen. 71 Prozent der Umfrageteilnehmer wußten, wer Gesine Schwan ist, Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach war 62 Prozent ein Begriff. Dahinter sieht es mau aus. Selbst SPD-intern muß das eine oder andere Mitglied schon zweimal auf die Liste schauen, um sich zu vergewissern, wen er da eigentlich vor sich hat. 

Auf der Auftaktkonferenz in Saarbrücken Anfang September hatte der SPD-Moderator den Kandidaten Norbert Walter-Borjans, Ex-Finanzminister Nordrhein-Westfalens, gleich mal mit dem Vornamen Walter angesprochen. „Ich heiße Norbert“, entgegnete dieser leicht säuerlich. Der Abend in Saarbrücken hielt zugleich die erste faustdicke Überraschung parat: Das Oberbürgermeister-Duo Simone Lange (Flensburg) und Alexander Ahrens (Bautzen) zog seine Kandidatur zurück. Stattdessen wolle man Walter-Borjans, und seine Mitbewerberin Saskia Esken unterstüzen. Sie würden ähnliche Ziele verfolgen: ein linkeres Parteiprofil, großzügige Investitionen statt schwarzer Null und eine Absage an die Große Koalition. Auch in Braunschweig sprechen die beiden davon, sich vom „Mythos des schlanken Staats“ zu verabschieden. 

Während die verhältnismäßig unbekannten Walter-Borjans und Esken als Hoffnungsträger viele Parteilinker gelten, steht ein anderer stellvertretend für die „alte“ Sozialdemokratie: Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz, der zusammen mit der Brandenburgerin Klara Geywitz antritt. Er ist auch derjenige, der am meisten zu verlieren hat. Wenn es nicht mit dem SPD-Vorsitz klappt, gehen die anderen Bewerber zurück in die Fraktion oder in die Landes- oder Kommunalpolitik. Anders Scholz: Als Vizekanzler wäre er angezählt, eine mögliche Kanzlerschaft wohl vom Tisch. 

Auf den Regionalkonferenzen wird er immer wieder in die Defensive gedrängt. Sein beruflicher Alltag holt ihn ein. Am 20. September verhandelt er die ganze Nacht lang über das Klimapaket, einen Tag später steht er völlig übermüdet in Neubrandenburg auf der Bühne, wo er bemüht ist, sich für die Entscheidungen der Großen Koalition zu rechtfertigen.

Juso-Chef Kevin Kühnert positioniert sich schon jetzt

Doch egal wo die Konferenzen stattfinden: Auffällig oft ähneln sich die kritischen Fragen an ihn fast aufs Wort. Das hat System. Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert hatte Mitte September eine E-Mail an die Mitglieder der SPD-Jugendorganisation geschickt. Darin befanden sich unter der Überschrift „Laut werden für eine linke SPD!“ Vorschläge für neun Musterfragen, mit denen Jusos aus dem Publikum heraus die Diskussion prägen sollen. Und das tun sie. Kühnert selbst hat sich schon klar positioniert und hinter das Bewerberpärchen Esken und Walter-Borjans gestellt. Ihm gefalle ihre Haltung zur Verteilungsgerechtigkeit, schließlich sei diese die „Gretchenfrage der programmatischen Erneuerung der SPD“, sagt er. 

Auch Scholz’ Mitbewerberin Klara Geywitz bleibt auf den Konferenzen blaß. „Wir müssen weiblicher werden“, fordert sie wiederholt. Doch nicht nur die SPD, das ganze Land soll es sein. Konkret heißt das: Ein Paritätsgesetz müsse auch auf Bundesebene her. Sonderlich mitreißend wirkt Geywitz dabei nicht. Das bestätigen mitunter sogar Teile ihres eigenen Landesverbandes. Brandenburgs Schatzmeister Harald Sempf erklärte jüngst, Geywitz sei zwar eine klar denkende Analytikerin“. Die nötige Herzenswärme, die eine neue Spitze brauche, könne er jedoch nicht erkennen. Sie könnte „von der zwischenmenschlichen Wärme her auch eine 10.000er-Geflügelfarm leiten“, so sein trockener Kommentar.

Boris Pistorius und Petra Köpping, der eine Niedersachsens Innenminister, die andere Sachsens Integrationsministerin, versuchen derweil ihrerseits den „Realo“-Flügel der Partei einzufangen und Scholz und Geywitz herauszufordern. „Wir sind das Duo, das anders ist und nicht für Flügelkämpfe steht“, versprechen sie. Kurz vor Ende der Bewerbertour fiel ihnen ein, öffentlich dafür zu plädieren, die Themen Migration, Integration und Innere Sicherheit auf die Themenliste für die noch ausstehenden Regionalkonferenzen zu setzen. Doch in Braunschweig ist davon kein Wort zu hören, auch nicht bei den nachfolgenden Terminen in Kamen und Troisdorf (NRW). Die SPD scheint ein zentrales Thema, das viele ehemalige Wähler der Roten in die Arme der AfD getrieben hat, ganz einfach auszublenden.

Und der Rest der Bewerber? Der ist zumeist bemüht, sich in ihren linken Forderungen gegenseitig zu überbieten. Doch während dem Duo Hilde Mattheis und Dierk Hirschel nur Außenseiterchancen eingeräumt werden, treffen die Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach und Nina Scheer verläßlich den Nerv ihrer GroKo-müden Parteimitglieder. Das Bewerberduo Gesine Schwan und Ralf Stegner, das sich für eine „geistige Erneuerung“ stark macht, erfreut sich ebenfalls großer Beliebtheit.

In der Braunschweiger Stadthalle dürfen am Ende alle Duos noch einmal für einen kurzen Appell in eigener Sache in die Bütt. Besonders pathetisch gerät es beim Doppel Christina Kampmann und Michael Roth: Wer Visionen habe, solle nicht zum Arzt, sondern in die SPD, fordern sie im Widerspruch zum bekannten Helmut-Schmidt-Bonmot. 

Und legen eigene, gewagte Prognosen vor: Für das Jahr 2030 postulieren sie nicht nur eine Schulabbrecherquote von null Prozent, sondern auch einen europäischen Außenminister, der sämtliche Atomwaffen wegverhandelt. Und: „2030 wird die AfD aus dem letzten Landtag fliegen, und wir sind nazifrei“, ruft Roth in den aufbrandenden Jubel. 

Was der Applaus vor Ort schlußendlich wert ist, bleibt jedoch abzuwarten. Wer am Ende das Rennen machen wird, ist schwer zu prognostizieren. Rund 18.000 Parteimitglieder werden die Regionalkonferenzen nach der letzten Veranstaltung in München am 12. Oktober besucht haben, abstimmberechtigt aber sind – bis zum 25. Oktober – ganze 426.000 SPD-Mitglieder.