© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Wer die Macht besitzt ...
Kontaktschuld: Die Intoleranz der vermeintlich Toleranten folgt einem primitiven Muster
Karlheinz Weißmann

Hans Joachim Mendig, der Chef der hessischen Filmförderung, ist seinen Posten los. Der Grund: Er hat sich mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen getroffen. Davon wurde ein Foto gemacht. Das kam in Umlauf und daraufhin die Empörungsmaschinerie in Gang. Zuletzt blieb Mendig keine Wahl, als seinen Hut zu nehmen.

Der Vorgang lief nach bekannten Mustern ab, hat allerdings ein gewisses Unbehagen ausgelöst. Hier und da findet man die Reaktion überzogen, hier und da wird die Vergiftung des Meinungsklimas bejammert, hier und da ist von „Kontaktschuld“ die Rede. Der Begriff stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und beruht auf der Vorstellung, daß jemand allein durch die Bekanntschaft mit einem Verfassungsfeind selbst zum Verfassungsfeind wird.

Allerdings hat das Vorgehen gegen Mendig keine juristische Dimension im eigentlichen Sinn. Weshalb am schwersten der Vorwurf der Doppelmoral wiegt. Menschen, die sich als Verteidiger einer liberalen Gesellschaft betrachteten, forderten Toleranz, heißt es etwa, seien aber selbst nicht bereit, sie zu gewähren.

Welcher Mechanismus dabei wirksam ist, wurde oft genug analysiert: Die Forderung der Toleranten nach Toleranz ist begrenzt durch die Vorstellung, daß dem Intoleranten – Meuthen – keine Toleranz gewährt werden dürfe und daß, wer sich aus irgendeinem Grund mit ihm einlasse – Mendig –, unter dasselbe Verdikt falle. Aller Erfahrung nach läßt der Hinweis auf den inneren Widerspruch die Toleranten kalt, weshalb es nützlich ist, zur Klärung des Problems einen Schritt weiterzugehen.

Tatsächlich hat sich im Hinblick auf den Begriff „Toleranz“ eine Bedeutungsverschiebung ergeben. Von der lange verbreiteten Vorstellung des „anything goes“, „jeder nach seiner Façon“, „mein Recht auf Selbstentfaltung endet erst da, wo es das Recht eines anderen verletzt“, ist man zurückgekehrt zu einer älteren Auffassung, die unter Toleranz nicht Hinnahmebereitschaft auf der Basis des gleichen Geltungsanspruchs versteht, sondern Duldungsbereitschaft. Duldungsbereitschaft setzt allerdings eine Machtposition voraus. Das heißt Duldung wird als Gnade gewährt, die im Falle des Mißbrauchs zurückgezogen werden kann. Wem Duldung unter welchen Bedingungen zukommt und wann ein Mißbrauch vorliegt, entscheidet selbstverständlich derjenige, der die Machtposition besetzt hat.

Wer diese Auffassung als archaisch empfindet, liegt ganz richtig. Tatsächlich geht sie auf ein elementares Prinzip zurück, mit dessen Hilfe menschliche Gemeinschaften ihren Zusammenhalt sichern, indem sie entscheiden: Wir – Nicht-Wir. Da wir keine Herden bilden wie Schafe, keine Rudel wie Wölfe und keine Staaten wie Ameisen, bedarf es der Kriterien, um zu bestimmen, wer zum Wir gerechnet wird, und was in seinem So-Sein oder Verhalten dazu führt, daß man ihn zum Nicht-Wir schlägt.

Ein entsprechendes Vorgehen dient zur Abgrenzung nach außen, aber auch zur Bestimmung der Richtlinien, nach denen die sozialen Ordnungen im Inneren eines Verbandes aufgebaut werden: Alters- und Heiratsklassen, Geburts- und Berufsstände, Bünde und Genossenschaften etc. Sie alle schützen ihren Zusammenhalt über objektive Kriterien – jung, erwachsen, reif, alt; ledig, freibar, verheiratet, verwitwet; adelig, geistlich, bürgerlich; Lehrling, Geselle, Meister; Anwärter, Mitglied, Vorstand –, aber auch durch die Prüfung der Gesinnung. Ob die strenger oder laxer ausfällt, hängt davon ab, wie angespannt oder entspannt die Lage ist. Aber die Sorge, daß irgendeine zersetzende, problematische, giftige Idee des Anderen, Unwürdigen, Konkurrenten, Gegners durch Fühlungnahme übergehen könnte, ist latent vorhanden. Weshalb schon dem Kind beigebracht wird, mit wem es sich abgeben darf, mit wem nicht, mit wem es in der Sandkiste Umgang pflegen soll, mit wem nicht, wen es zur Geburtstagsfeier einladen darf, wen nicht. Dabei handelt es sich im Grunde nicht um Unterscheidungen im moralischen, sondern im rituellen Sinn: die Festlegung einer Linie zwischen den „Reinen“ und den „Unreinen“ durch Tabu, also ein Berührungsverbot.

Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Polynesischen und fand von dort Eingang in die Religionswissenschaft: Das Tabu ist, wie der niederländische Theologe Gerardus van der Leeuw definiert hat, das, was „ausgenommen“ wurde. Es zu verletzen gilt deshalb als so schwerwiegend, weil das nicht nur einen Verstoß gegen eine Regel in einem Fall bedeutet, sondern einen Frevel, der die Lebensordnung selbst gefährdet. Deshalb durfte niemand dem König Israels zusehen, wenn ihm das Haar geschnitten wurde, deshalb durfte ein Priester des römischen Jupiter kein Pferd reiten, keinen Eid ablegen und nur einen durchbrochenen und hohlen Ring tragen, deshalb wurde bei den Kikuyu in Kenia jemand mit Tabu belegt, wenn die Seitenstange seines Bettgestells abbrach.

Daß solche Tabus dem modernen Menschen kaum nachvollziehbar oder ausgesprochen absurd erscheinen, spielt für den Zusammenhang keine Rolle. Denn das Tabu ist, wie van der Leeuw feststellte, „die älteste Form des kategorischen Imperativs“. Seine Forderung hat unbedingten Charakter, und der Form nach ist es dem Kants vergleichbar: Warum man soll ist keine Frage. Deshalb meidet man das Tabu, wenn man klug ist. Wer nicht klug ist und das Tabu bricht, der gefährdet durch seine Existenz selbst den Bestand der Gruppe. Er hat sich durch Berührung kontaminiert und kontaminiert nun alles, was er berührt.

Selbstverständlich werden diejenigen, die heute die „bunte“, „offene“, „vielfältige“ Gesellschaft gegen ihre Feinde dadurch verteidigen, daß sie Personen, deren Auffassungen ihnen nicht passen, diskriminieren, denunzieren, mundtot machen, ächten oder ihrer Existenz berauben, nicht begreifen, welch primitiven Mustern des menschlichen Verhaltens sie folgen. Aber tatsächlich ist die Sache nicht komplizierter. Der Fall Mendig zeigt, wer die Macht hat, also etwas machen kann. Eine Form der Macht ist, Tabus machen zu können, das heißt festzulegen, wer „rein“ ist und wer „unrein“, und zu bestimmen, welche Strafe über den verhängt wird, der die Gruppe der „Reinen“ durch seine „Unreinheit“ bedroht, weil „Unreinheit“ ansteckend ist wie eine Krankheit. Dagegen kann man im Namen von Fairneß, Vernunft und Aufklärung Einspruch erheben. Aber der Erfolg scheint mehr als zweifelhaft. Aussichtsreicher ist es, sich Gegen-Macht zu verschaffen.