© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Den unverdrossenen Träumern von Sozialismus ins Stammbuch geschrieben
Vom Osten lernen
Peter Kuntze

Mit ihrer Einschätzung, als Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen sei der Traum vom Sozialismus unsterblich, sollte Rosa Luxemburg recht behalten: „Die Revolution wird sich morgen schon rasselnd wieder in die Höh’ richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“ Kaum dreißig Jahre sind vergangen seit dem Bankrott des im Ostblock real existierenden Sozialismus, doch selbst das Fiasko der „bolivarischen Revolution“ in Venezuela, das sich mit Hunger, Verelendung und Chaos gerade vor aller Augen abspielt, vermag der marxistischen Utopie einer besseren Welt nichts anzuhaben.

Nicht nur deutsche Linke träumen weiter unverdrossen von einem Systemwechsel. Auch manche Rechte hoffen neuerdings auf eine „Querfront“, um gemeinsam mit Linken den global agierenden Finanzkapitalismus zu überwinden. Doch auch dieser Versuch, sollte er jemals gelingen, wird scheitern, weil seine Verfechter in Europa die Nationalstaaten zugunsten einer supranationalen Organisation als Zentralregierung abschaffen und an die Stelle des Marktes staatliche Planung setzen wollen.

Angesichts des erneut beschworenen Revivals des Sozialismus könnte daher die Erinnerung an die seinerzeitigen Erkenntnisse helfen, verhängnisvolle Fehler nicht ein zweites Mal zu begehen. So hatte der sowjetische Autor Igor Kljamkin im Februar 1989 in der Literaturzeitschrift Nowyj Mir eine „ideologische Perestrojka“ gefordert, die auch vor den Ideen und Konzepten des Staatsgründers Lenin nicht haltmachen dürfe: „Uns steht bevor, das ganze Wertesystem der kommunistischen Ideologie abzureißen – abzureißen, nicht zu säubern.“ Das Gleichheitsideal lasse sich nicht mehr vereinbaren mit der Vertiefung der Unterschiede in einer leistungs- und verbraucherorientierten Wirtschaft; es müsse aufgegeben werden.

Kljamkin: „Das heutige Ideal ist das Ideal der individuellen Selbstentwicklung. Das Prinzip der Gleichheit hat nicht zum Sieg der allgemeinen Liebe, sondern zur Kasernierung, zur Gleichmacherei, zur allgemeinen Nivellierung und zur Eskalation des Hasses geführt.“

Polens Parteitheoretiker empfahlen damals den Abschied vom „Klassenkampf“ und die Aufgabe des Dogmas von der „Diktatur des Proletariats“. Der seinerzeitige Finanzminister (1988/89) Andrzej Wróblewski erklärte, Polen habe den „echten Sozialismus“ bereits aufgegeben und versuche nun, ihn durch einen „marktorientierten Staatskapitalismus“ zu ersetzen. In Ungarn, wo der Lebensstandard auf das Niveau von 1973 gesunken war, stellte die im Frühjahr 1989 gegründete Gewerkschaft Arbeiter-Solidarität fest: „Seit 1948 hat keine Organisation in diesem Land die Interessen der Werktätigen geschützt.“ Ziel sei daher die Schaffung einer sozialen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, die allen einen ausreichenden Lebensstandard sichere. Die ungarische KP war wenig später bereit, ein Mehr-Parteien-System zu akzeptieren und notfalls in die Opposition zu gehen.

Allen Beschwörungen eines „proletarischen Internationalismus“ zum Trotz überlagerte die nationale Frage die Klassenfrage, sprengte ein nationales Erwachen den ideologischen Klammergriff – ob in der UdSSR, in Jugoslawien, in Rumänien oder der CSSR.

 „Nach vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft in Jugoslawien und nach sieben Jahrzehnten in der Sowjet­union wissen wir genau, daß das marxistische, leninistische, bolschewistische Modell ein menschlicher Irrtum ist“, konstatierte Anfang 1989 France Tomšic, Gründungsmitglied der Slowenischen Sozialdemokratischen Union, der ersten unabhängigen Partei im Nachkriegs-Jugoslawien. Auch seine Diagnose war die Variante der immer gleichen Erkenntnis: „Der Beweis, daß das kommunistische Ein-Parteien-System unfähig, unmenschlich und wirtschaftlich unfruchtbar ist, liegt in der Tatsache, daß wir heute dreimal weniger verdienen und dreimal schlechter leben als unsere unmittelbaren Nachbarn – die Österreicher in Kärnten und die Italiener in Triest.“

Und Raif Dizdarevic, Staatsoberhaupt Jugoslawiens bis Mai 1989, mußte angesichts einer Inflationsrate von mehr als 600 Prozent, einer Auslandsverschuldung von rund 400 Milliarden D-Mark und der explosiven nationalen Gegensätze einräumen, daß die politische und ökonomische Malaise „Jugoslawien in seinen Grundfesten erschüttert“.

Die Beispiele für das Eingeständnis der Krise des real existierenden Sozialismus und des Niedergangs des Marxismus ließen sich damals beliebig fortsetzen – bis hin zur KP Italiens, in deren Reihen erwogen wurde, das Prädikat „kommunistisch“ aus dem Parteinamen zu tilgen. Während die nichtregierenden Kommunisten im Westen mit Rhetorik und Anpassung das Dilemma zu meistern versuchten, standen ihre regierenden Genossen im Osten buchstäblich mit dem Rücken zur Wand. Eindringlich beschwor Generalsekretär Michail Gorbatschow das Zentralkomitee der KPdSU, seiner Perestroika zum Erfolg zu verhelfen – „sonst sind wir alle vor den Bürgern bankrott“. Nicht minder eindeutig fiel das Urteil der parteitheoretischen Zeitschrift Kommunist aus: Die radikalen Veränderungen in der westlichen Gesellschaftsordnung hätten nicht nur die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die gängige These vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) überholt.

Der Kollaps einer Ideologie, die angetreten war, den „Neuen Menschen“ zu schaffen, eine Welt ohne Waffen, ohne Armeen und ohne Kriege zu errichten sowie Mensch und Natur miteinander zu versöhnen, war eine wahrhaft historische Zäsur. Nicht eines seiner Ziele hatte der Marxismus bis 1989 erreicht. Inflation, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Umweltzerstörung – diese Übel galten stets als Merkmale eines dem Untergang geweihten Kapitalismus. Doch damals standen alle sozialistischen Staaten vor dem Ruin. Ausgebeutete Rohstoffe, schwer beschädigte Natur und erschöpfte Menschen waren die Resultate ihrer praktizierten „Wissenschaft“. Absterben der Religion, Verschwinden der Kriminalität, Aufhebung nationaler Konflikte – das Gegenteil von alledem kennzeichnete die Realität des staatsmonopolistischen Sozialismus.

Allen Beschwörungen eines „proletarischen Internationalismus“ zum Trotz überlagerte die nationale Frage die Klassenfrage – ob in der UdSSR, in Jugoslawien, in Rumänien oder der CSSR. Die Virulenz des nationalen Erwachens sprengte schließlich den äußeren Gürtel des sowjetischen und den inneren Gürtel des großrussischen Imperiums. Der historische Materialismus mit seinem Entwicklungs-Determinismus hatte auf der ganzen Linie Schiffbruch erlitten.

Aus dem Ursachenbündel philosophischer, psychologischer, politischer, ökonomischer und soziologischer Trugschlüsse seien zwei Punkte herausgegriffen, die die Antiquiertheit des Marxismus-Leninismus augenfällig gemacht und seine Verfechter in die Sackgasse ihres Denkens und Handelns geführt hatten: die arbeitsteilige, auf modernster Informationstechnik basierende Industriegesellschaft sowie die fundamentale Fehleinschätzung der Entwicklung des Kapitalismus. Auf die Frage einer Leserin, ob die proletarische Revolution in den USA heute möglich sei, ließ die Komsomolskaja Prawda Anfang 1989 einen Historiker des Moskauer Amerika-Instituts antworten: „Die kapitalistische Ordnung hat ein Niveau erreicht, das die klassische marxistische Theorie nicht vorsah. Der heutige Kapitalismus sichert der Mehrheit der Bevölkerung einen genügenden, in einigen Fällen sogar hohen Lebensstandard. Die reife bürgerliche Demokratie ist eine Rechtsgesellschaft. So ist die proletarische Revolution, meiner Ansicht nach, unmöglich.“

Gorbatschows Berater Anatolij Dobrynin sah die wichtigste Ursache für die Krise des Kommunismus in „neuen Erscheinungen in der Entwicklung des Kapitalismus, der sich als von viel größerer Beständigkeit erweist, als ursprünglich angenommen wurde“. 

Bereits im April 1988 hatte Anatolij Dobrynin, Leiter der Internationalen Abteilung beim Zentralkomitee der KPdSU und außenpolitischer Berater Gorbatschows, die Krise des Weltkommunismus schonungslos analysiert. Auf einer Konferenz in Prag beklagte er, daß in manchen westlichen Ländern die Wählerunterstützung für die kommunistischen Parteien immer mehr zurück­gehe und die Mitgliederschaft schrumpfe. Als einen der Gründe nannte er die Tatsache, daß „der Sozialismus den breiten Massen im Westen kein überzeugendes Beispiel durchgreifender Demokratisierung der Gesellschaft und radikaler Lösungen wirtschaftlicher Probleme gewiesen hat“. Die wichtigste Ursache aber sah Dobrynin in „neuen Erscheinungen in der Entwicklung des Kapitalismus, der sich als von viel größerer Beständigkeit erweist, als ursprünglich angenommen wurde“.

Auch die chinesischen Marxisten, die bereits 1978 – zehn Jahre vor dem Zusammenbruch des Ostblocks – unter der Ägide Deng Xiaopings als erste einen bis heute überaus erfolgreichen Reform- und Öffnungskurs einschlugen, kamen in ihrer Analyse des modernen Kapitalismus zu erstaunlichen Erkenntnissen. So konstatierte Ende 1988 Xu Jiatun, Leiter der Hongkonger Filiale der Nachrichtenagentur Xinhua und heimlicher „Regierungschef“ der damals noch britischen Kronkolonie: „Unsere bisherige Vorstellung vom Kapitalismus war so: Er sei sehr grausam, behindere die Entwicklung der Produktivkräfte in ernstem Maße und sei seinem Ende nahe.“ Entgegen traditioneller marxistischer Auffassung sei der kapitalistische Markt jedoch nicht anarchisch, vielmehr gelinge es den bürgerlichen Regierungen immer besser, durch staatliche Eingriffe ökonomische Krisen zu meistern.

Durch Kartellgesetzgebung, so Xus Analyse, bleibe das Konkurrenzprinzip in Kraft und fördere mittlere und kleine Unternehmen; auch dies widerspreche der marxistischen Annahme, der Kapitalismus sei eine monopolistische Wirtschaftsordnung. Mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen hätten die bürgerlichen Regierungen die Klassenwidersprüche entschärft, die politische Lage weitgehend stabilisiert und einen Einkommensausgleich herbeigeführt. Prinzipiell könne jeder Aktien erwerben; der Mittelstand spiele überall eine wachsende Rolle. Xu: „Auch dies entspricht nicht unserer Vorstellung, daß es in der kapitalistischen Gesellschaft keine Garantie für das Leben der Werktätigen gebe, Arbeitnehmer in krassem Widerspruch zum Arbeitgeber stünden und das Proletariat immer mehr verarme.“ Es gelte daher, von diesem System zu lernen und seine positiven Elemente zu übernehmen.

Wären die Resultate des in die Praxis umgesetzten marxistischen Sozialismus nicht so verheerend, könnte sich am Ende ein Kapitel menschlicher Geschichte auf jenen Witz reduzieren, den ein polnischer Ökonomie-Professor im Sommer 1989 auf einem Kongreß in Budapest zum besten gab: „Frage an Radio Eriwan: Was ist der Sozialismus? Antwort von Radio Eriwan: Der längste und schmerzhafteste Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.“ Doch mit der Idee des Sozialismus wird es auch weiter sein wie mit der Sonne in Heinrich Heines Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“: „Mein Fräulein! Sein Sie munter, / das ist ein altes Stück; / hier vorne geht sie unter / und kehrt von hinten zurück.“






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Kampf gegen Volk, Nation und Staat („Endspiel um Deutschland“, JF 4/19).

Foto: Auf der Leipziger Messe 1954 werden in einem Geschäft Importe aus Rotchina verkauft: „Der Beweis, daß das kommunistische Ein-Parteien-System unfähig, unmenschlich und wirtschaftlich unfruchtbar ist, liegt in der Tatsache, daß wir heute dreimal weniger verdienen und dreimal schlechter leben als unsere unmittelbaren Nachbarn.“