© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

„Die Partei wird oft falsch dargestellt“
In kaum einem EU-Land ist die politische Rechte so stark wie in Polen. Warum eigentlich? Und welche Bedeutung hat die Wahl der beiden Parlamentskammern Sejm und Senat am Sonntag, bei der die PiS Favorit ist? Fragen an den Warschauer Politologen Bartosz Rydlinski
Moritz Schwarz

Herr Dr. Rydlinski, wie bedeutend ist die Wahl am Sonntag tatsächlich?

Bartosz Rydlinski: Sehr bedeutend, denn kommt es wie prognostiziert, wird die regierende PiS – „Prawo i Sprawiedliwosc“ („Recht und Gerechtigkeit“) – wiedergewählt werden. 

Warum ist das bedeutend? 

Rydlinski: Weil es das erstemal in der Geschichte der Dritten Republik wäre, daß dies einer alleinregierenden Partei gelingt. Bei uns regieren eigentlich Koalitionen, weil in der Regel keine Partei alleine stark genug ist. 

Warum gelingt das – bei einem prognostizierten Plus von fünf auf 42 Prozent – voraussichtlich nun erstmals gerade der PiS? 

Rydlinski: Da gibt es vor allem drei Gründe: Erstens ist Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr erfolgreich. 

Es ist also nicht so, wie man es in Deutschland Rechtsparteien nachsagt, wonach diese nicht in der Lage sind, gut zu regieren?

Rydlinski: PiS jedenfalls kann etliche Erfolge vorweisen, etwa das Wachstum befördert, den Mindestlohn angehoben oder erfolgreiche Förderprogramme für kinderreiche Familien aufgelegt zu haben. Was viele Familien, die so eine Sozialpolitik zuvor noch nicht erlebt haben, als fundamentalen Wandel empfinden.

Eigentlich ist es ja selbstverständlich, aber gerade wir in Deutschland sind es dennoch kaum noch gewöhnt – im Klartext: Das Geheimnis der PiS ist, daß sie schlicht ihre Arbeit macht – sprich „liefert“?  

Rydlinski: In der Tat hat sie es verstanden, auf etlichen Gebieten ihr Programm umzusetzen. Und egal ob man dies begrüßt oder ablehnt, auf jeden Fall zeigt dies den Wählern, daß sie in der Lage ist, effektiv zu regieren. Drittens: Die Partei versteht sich auf den Populismus.       

Was meinen Sie damit?

Rydlinski: Es ist bekannt, daß die führende Figur der PiS, Parteichef Jaroslaw Kaczynski, kein großer Anhänger der liberalen Demokratie ist. Statt dessen wirbt er für so etwas wie eine illiberale Demokratie, alternativ zu dem, was wir die letzten dreißig Jahre in Polen hatten. Dazu müssen Sie wissen, daß der Liberalismus nach dem Ende des Kommunismus in Polen viel stärker Einzug gehalten hat, als etwa je in Deutschland. Und dann wäre da noch ein „Sozialstaat polnischen Typs“, wie Kaczynski sagt.

Worunter man sich was vorzustellen hat? 

Rydlinski: Gemeint ist damit ein Wohlfahrtsstaat, der auf den traditionellen Werten Polens gründet. Und der nicht darauf vertraut, daß der Markt alles löst. 

Wie bedeutend ist das weltanschauliche Angebot im Vergleich zu den praktischen Leistungen für den Erfolg beim Wähler?

Rydlinski: Polen ist ein konservatives Land. So haben es selbst die Linke oder die liberale „Platforma Obywatelska“ („Bürgerplattform“), als sie an der Macht waren, nie unternommen, Kirche und Staat zu trennen. Kaczynski und die PiS nutzen all das und zeigen den Wählern Angstgegner auf, etwa die LGBT-Bewegung oder die Einwanderung, die die polnische Identität bedrohen und die katholische Tradition zerstören würden. 

Aber nochmal, wie bedeutend ist dieser weltanschauliche Faktor für den PiS-Erfolg? Können Sie das quantifizieren? 

Rydlinski: Schwierig, er spielt schon eine erhebliche Rolle, vor allem außerhalb großer Städte, auf dem Land, wo man besonders stark an Traditionen hängt. Ich würde aber sagen, daß es nicht ein Aspekt ist, der die PiS so erfolgreich macht, sondern, im Gegenteil, gerade ihre Fähigkeit, für verschiedene Wählergruppen ansprechend sein zu können.

In Deutschland unterstellt „Populismus“ politischen Betrug und Radikalismus. Wollen Sie das über die PiS sagen? 

Rydlinski: Nun, sie ist schon sehr geschickt darin, politische Mythen zu kreieren und den Leuten als Wahrheiten zu verkaufen. Andererseits ist die PiS eine Volkspartei und wird auch von Wählern der Mitte gewählt. Es ist zudem falsch, wenn sie, etwa in ausländischen Medien, als die schlimmste Wahl Polens dargestellt wird. Denn bei aller Kritik, die ich nun wirklich auch selbst an dieser Partei übe, muß man anerkennen, daß sie eine in Polen weitverbreitete politische Frustration auffängt, in zivilisiertere Bahnen lenkt und in das demokratische System integriert. Außerdem spricht sie Themen an, die relevant sind. Daß sie diese ausschlachtet, sagte ich schon, aber sie bringt sie eben auch in die Debatte ein.

Eben das wird in Deutschland als das Problem bei Parteien wie der PiS betrachtet.

Rydlinski: Ich weiß, würde aber widersprechen, denn Tatsache ist, daß in Polen die Vielfalt der demokratischen Debatte – vor allem dank der PiS, und bitte entschuldigen Sie die folgende Kritik – wesentlich breiter ist als bei Ihnen in Deutschland. Ich habe es selbst schon oft erlebt, wie in unseren Deutsch-Klassen Diskutanten, die etwa nur Zweifel am Euro äußerten, als „Populisten“ verunglimpft wurden. Oder wie selbst Linke, die lediglich meinten, ein ganz und gar bedingungsloses Multikulti könne es nicht geben, fast als Faschisten galten.

Was ist daran das Problem? 

Rydlinski: Ich bitte Sie, so kann eine demokratische Debatte nicht funktionieren. Die Wahrheit ist doch, daß die Realität komplex ist, und dem muß die Debatte Rechnung tragen. In den polnischen Medien etwa sind die Argumente der verschiedenen politischen Lager viel besser repräsentiert als in den deutschen. Ich muß sagen, daß ich persönlich immer wieder überrascht, ja erschreckt darüber bin, wie stark bei Ihnen etwa die Debatte über die Einwanderung beschnitten ist – und das nicht nur im öffentlichen, sondern sogar im akademischen Diskurs! Dabei möchte ich klarstellen, daß ich niemand bin, der meint, Einwanderung sei das zentrale Problem der Politik oder sollte es sein. Ich halte sie schlicht für ein Thema unter vielen. Aber natürlich wird die Offene-Grenze-Politik Ihrer Kanzlerin noch massive Konsequenzen für die Zukunft Deutschlands haben und zwar über viele Jahrzehnte. Und da kann es nicht sein, daß darüber nicht offen debattiert werden kann. 

Sehen Sie Polen von der Bundesregierung falsch behandelt? 

Rydlinski: Ich wünschte, daß deutsche Journalisten und Politologen beim Blick auf Polen mitunter mehr Sorgfalt walten ließen. Wir sind kein so illiberales Land, wie das von deutscher Seite oft empfunden wird. Gerne werden wir mit Ungarn in einen Topf geworfen. Dabei gibt es bei uns eine viel stärkere Opposition, viel mehr unabhängige Akademiker und vor allem viel mehr unabhängige private Medien. Und es wird zu wenig beachtet, daß es nun mal auch grundlegende Unterschiede zwischen Berlin und Warschau gibt, etwa hinsichtlich der EU: Während Frau Merkel diese wohl zu einer Art Bundesstaat machen möchte, stellen sie sich viele bei uns in Polen eher als ein „Europa der Vaterländer“ vor. Das führt zu Spannungen, die nicht nötig wären, wenn man einander besser verstehen würde. Zwischen Deutschland und Polen sollte es wieder wie früher sein, als nach dem Kommunismus unsere Beziehung von Respekt, ja Freundschaft unserer Regierungen geprägt war.       

Berlin mag Warschau mit seinen Vorstellungen von der EU und einer europäischen Flüchtlingsverteilung verschrecken, aber Warschau dafür Berlin mit immer wieder neuen Reparationsforderungen. 

Rydlinski: Ja, wobei etliche Analytiker diese Forderungen lediglich als Versuch Kaczynskis betrachten, sich gegen den Brexit rückzuversichern. Denn verläßt Großbritannien die EU, wird ihr Budget neu verteilt und auf Polen kommen zusätzliche Kosten zu. Und so hat man bei der PiS eben begonnen, nach möglichen Zusatzeinnahmen Ausschau zu halten.

Wie antideutsch ist die PiS?

Rydlinski: Natürlich, es ist schon so, daß Kaczynski in der Vorstellung lebt, Deutschland schulde Polen noch Ausgleich. Und in der Tat sehen das viele Polen ähnlich. Und ja, auch spielt er ohne zu zögern gegenüber den Wählern die antideutsche Karte, wenn er sie braucht. Ich finde das nicht gut. Und es gibt bei uns auch Experten, die den Polen immer wieder erklären, daß Deutschland in der EU zu den Nettozahlern gehört, von denen Polen profitiert. Allerdings kommt dieses Argument bei Kaczynski und vielen Polen einfach nicht an. Weil es bei ihnen dieses tiefsitzende Gefühl gibt, daß Polen im Krieg und danach größtes Unrecht widerfahren ist. Das aber ist in der unzugänglichen Trotzigkeit, mit der sie es praktizieren, irgendwie kindisch. Dennoch sollte dies auf deutscher Seite auf keinen Fall ebenso beantwortet werden. Das Thema ist nun mal sehr emotionalisiert – was aber letztlich zu nichts führt. Weshalb ich dafür wäre, es gezielt nüchtern zu behandeln. Am besten sollten es unsere Politiker zurückgezogen in einem tiefen, tiefen Wald, unter Ausschluß der Medien, ganz diskret besprechen, wenn das möglich wäre. 

Warum hat Polen eine so konservative Öffentlichkeit, während in der deutschen das sogenannte Progressive so dominant ist? Haben Sie dafür eine Erklärung?  

Rydlinski: Schauen Sie in Ihre ehemalige DDR: Da beobachten Sie ähnliches. Nun bedenken Sie, daß Polen aber nicht wie Deutschland nur zum kleineren Teil, sondern vollständig zum Kommunismus gehört hat. Nach dessen Ende gab es eine Aufbruchshoffnung, man startete mit Vollgas in eine neue Zeit, ohne zu wissen, was tatsächlich auf uns zukommt – etwa die Globalisierung. Das ist wie wenn Sie mit einem Auto zu forsch lospreschen: Plötzlich bekommen Sie einen Schreck wegen der zu hohen Geschwindigkeit – sie merken, das Tempo reißt Sie mit. Was tun Sie? Tüchtig auf die Bremse treten und erschreckt erst mal ganz langsam und sicher fahren. Genauso ist das für die Gesellschaften in der ehemaligen DDR und Polen mit der Transition nach dem Kommunismus gewesen. Und ein Phänomen wie die PiS können Sie als extremes Gegenlenken zum schwindelerregenden Tempo nach der Wende betrachten. Dazu kommt außerdem eine Enttäuschung über die Sozialdemokratie – in der Ex-DDR über die SPD, bei uns über die SLD. Die beide von vielen ihrer traditionellen Wähler der Arbeiterschicht verlassen wurden, weil die sich von den Parteiführern verraten fühlen. Denn die Reaktion vieler kleiner Leute auf den galoppierenden Liberalismus der Transitionszeit war, Sozialdemokraten zu wählen – in der Hoffnung, von diesen vor dessen Auswüchsen geschützt zu werden. Doch die haben die Erwartung dieser Wähler nicht erfüllt. Und so wählen viele der kleinen Leute nun eben Rechtsparteien, in der Hoffnung, daß diese ihr Versprechen halten, sie vor der Globalisierung zu schützen.

Aber laut Prognose bringt die Wahl auch die Sozialdemokraten, in Gestalt der „Polska Lewica“ („Polnische Linke“), zurück.

Rydlinski: Ja, aber nachdem sie bei der letzten Wahl aus dem Parlament geflogen ist. Heute gilt sie als nicht mehr mitverantwortlich für die Fehler früher.  

Neben PiS hat auf der rechten Seite auch die kleine „Konfederacja“ („Konföderation“) Aussicht, ins Parlament zu kommen.

Rydlinski: Sie ist eine Verbindung zweier kleinerer Rechtsparteien und damit eine Mischung aus ganz verschiedenen Ideen. Und so bietet sie etwa auf der einen Seite libertäre Positionen an, auf der anderen teilweise antisemitische – was die PiS und besonders Kaczynski übrigens immer zu vermeiden sucht. Überhaupt bietet „Konfederacja“, was PiS nicht im Programm hat, wie etwa slawische Russophilie. Und sie zieht vor allem junge Leute an, die wegen ihres Alters oft noch etwas radikaler sind und denen die PiS zu gemäßigt ist. 

In den deutschen Medien werden immer wieder junge Polen präsentiert, die gegen die PiS und den Konservatismus der polnischen Gesellschaft opponieren. Kommt auf Polen ein Generationenkonflikt zu, der seine Gesellschaft, wie bei uns in Deutschland, nach links rücken lassen wird? 

Rydlinski: Das sehe ich derzeit nicht, denn wie Wähleranalysen zeigen, gewinnt PiS unter der Jugend sogar hinzu. Es stimmt aber, daß es diese Jugendlichen gibt, die Ihnen da gezeigt werden. Aber das sind junge Leute in Großstädten. Fahren sie mal aufs Land, da finden sie ganz andere Jugendliche.

Sagten Sie nicht, die stimmen für „Konfederacja“?

Rydlinski: Das sind doch nur einige radikaler Gesonnene. Insgesamt ist die Zustimmung für diese Partei gering, sie spielt eigentlich kaum eine Rolle. Und ich glaube auch nicht, daß sie es am Sonntag ins Parlament schaffen wird. 

Warum nicht, vorige Woche lag sie in Umfragen immerhin bei 7,5 Prozent?  

Rydlinski: Ja, doch die neueste Erhebung sieht sie nur noch bei fünf Prozent – und das ist gleichzeitig unsere Parlamentshürde, an der sie, nach meiner Einschätzung, scheitern wird. Denn die PiS bewirkt auch, daß bei uns die radikale Rechte schwächer ist, als zum Beispiel ... meinetwegen in Holland. Ich glaube zudem, daß „Konfederacja“ selbst mit fünf Prozent schon überbewertet ist. Sie müssen wissen, in Polen sind die Umfrageinstitute leider denkbar schlecht. Hier sagen wir: Und wer hat mal wieder die Wahlen verloren? Die Demoskopen!  






Dr. Bartosz Rydlinski, lehrt Politologie am Institut für Politikwissenschaft und Verwaltung der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität in Warschau, mit einem Schwerpunkt beim Thema soziale Bewegungen. Geboren wurde er 1984 im zentralpolnischen Bezirk Masowien.

Foto: Schnappschuß auf einer Wahlkampfveranstaltung in Danzig der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS): „In Polen hat die demokratische Debatte mehr Vielfalt als in Deutschland“

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