© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Große Freude über Gäste aus Deutschland
Syrien: Die christliche Minderheit zeigt sich trotz des Krieges lebendig und kämpferisch
Moritz Scholtysik

Aufmerksam blickt der junge syrische Soldat auf der Ladefläche des silbernen Pickups in die Wüste. Seine Hände hat er an dem schweren Maschinengewehr. Über zwei Stunden fahren wir durch das menschenleere Land. Unser Ziel: die antike Tempelstadt Palmyra. Hin und wieder halten wir an einem Kontrollpunkt des Militärs. Manchmal fahren an uns alte Linienbusse vorbei, jetzt vollbesetzt mit Soldaten der Regierung.

In unserem Wagen, direkt hinter dem Militärfahrzeug, ist man guter Dinge. Seit über 20 Jahren habe er die Wüste nicht mehr so grün gesehen, freut sich Erzbischof Philippe Barakat und bläst den Rauch seiner Zigarette durch das geöffnete Fenster. Wie viele syrische Kleriker spricht er Französisch. 

Die Gastfreundschaft ist ungebrochen 

Von seinem Heimatort Zaidal, nahe Homs, waren wir an diesem Vormittag aufgebrochen. Nachdem es dem „Islamischen Staat“ (IS) zweimal gelungen war, Palmyra zu erobern, sind Stadt und Umland militärisches Sperrgebiet. Nur durch den syrisch-katholischen Erzbischof erhalten wir Zugang zur Stadt. Einer der beiden Priester, die uns begleiten, schenkt Kaffee in kleine Tassen und reicht sie durch den Wagen. Der Duft von Kardamom breitet sich aus.

Die vielfach gerühmte syrische Gastfreundschaft ist trotz der Kriegsjahre ungebrochen. Das erfahren wir auf unserer Reise durch das westliche Syrien immer wieder. Ich begleite Pfarrer Peter Fuchs, Geschäftsführer von „Christian Solidarity International“ in Deutschland. Sein Hilfswerk unterstützt christliche Einrichtungen in Syrien. Die Freude über Gäste aus Deutschland ist überall groß. Immer wieder werden Kaffee und Gebäck aufgetischt. Stolz zeigt man uns Familienfotos, stellt uns Freunden vor oder überreicht kleine Andenken. Aber auch über den Krieg erfahren wir mehr.

In Bab Tuma, einem christlichen Viertel in Damaskus, zeigt uns der chaldäisch-katholische Priester Abuna Malek Splitter von Mörsergranaten und Einschlagslöcher im Kirchhof. In den Kämpfen um die Hauptstadt zwischen 2012 und 2018 kamen die islamistischen Rebellen dem Viertel sehr nahe und beschossen es. Die Löcher in Wänden und Böden lassen sich überall im Viertel finden. Die armenisch-katholische Schule zum Beispiel wurde mehrfach getroffen: 2014 töteten zwei Granaten einen neunjährigen Schüler und verletzten etwa 60 weitere Schüler und Eltern.

Auf dem Weg nach Palmyra halten wir erneut an einem Kontrollpunkt. Auf einer Mauer sind Fotos von Assad, Putin und Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der libanesischen Miliz Hisbollah, zu sehen. Ein Soldat kontrolliert unsere Pässe. Er kennt einen der Priester und gibt ihm die Pässe zurück. Wir sollen kurz warten, sagt er und verschwindet in dem kleinen Haus, vor dem viele Soldaten sitzen. Kurz darauf kommt er mit Kaffeebechern für uns zurück. Wir können weiterfahren. Die Stimmung ist ausgelassen, der Fahrer dreht arabische Musik auf. Der andere Priester bietet uns Obst und Teigtaschen an.

Wir lassen die flache Wüste hinter uns und passieren eine Bergkette. Als sich dahinter Palmyra vor uns auftut, werden wir ernster. Das Militärfahrzeug leitet uns an mehreren Geschützständen vorbei in ein Randgebiet der Neustadt. Die Häuser sind teilweise oder ganz zerstört, Menschen sieht man nur sehr selten. Auch kaum Soldaten. Die befinden sich wohl in einem anderen Teil der Stadt. 

Wir halten an den Überresten der syrisch-katholischen Kirche. Als wir aussteigen, begrüßen uns der Befehlshaber der lokalen Regierungstruppen und zwei Soldaten. Erzbischof Barakat und der Offizier, dessen Namen wir nicht erfahren, kennen sich. Gemeinsam erkunden wir die kleine, ausgebrannte Kirche und das zerstörte Pfarrhaus nebenan. Bis der IS das erste Mal Palmyra eroberte, wirkte einer der beiden mitgereisten Priester hier als Pfarrer. Er floh mit seinen Gläubigen und seinen beiden kleinen Kindern vor dem IS in Richtung Homs.

Das Schicksal des Pfarrers von Palmyra ist kein Einzelfall. In Gebieten, die vom IS oder von Rebellengruppen wie der „Freien Syrischen Armee“ und der „al-Nusra-Front“ kontrolliert wurden, war die Lage für Christen und andere religiöse Minderheiten wie Alawiten, Schiiten, Drusen oder Jesiden gefährlich. Ihnen drohten Entführung, Ermordung oder Vertreibung. 

Viele Christen flohen aus diesen Gebieten in den von der Regierung kontrollierten südwestlichen Landesteil oder in einen Nachbarstaat, vor allem in die Türkei oder den Libanon. In einigen Gebieten haben sich Christen zu eigenen Milizen zusammengeschlossen. Zum Beispiel in Saidnaya. Die Bewohner der christlichen Stadt nördlich von Damaskus stellten eine Miliz zusammen, um Angriffe der „al-Nusra-Front“ abzuwehren. Mit Erfolg. Für die Christen ist Saidnaya ein besonderer Ort, da sich in dem dortigen griechisch-orthodoxen Frauenkloster eine Marienikone des Evangelisten Lukas befindet. Auf dem Berg oberhalb der Stadt ragt eine Christus-Statue 32 Meter in die Höhe, die im Oktober 2013 während eines mehrtägigen Waffenstillstands aufgestellt wurde. Im Juli 2019 besuchte Präsident Assad ein syrisch-katholisches Jugendlager in Saidnaya und betonte in seiner Rede, daß Christen in Syrien „niemals Fremde“ gewesen seien. 

Tatsächlich reicht die christliche Tradition auf dem Gebiet des heutigen Syrien bis an den Anfang des Christentums zurück. Mehrere Apostel sind durch das Land gezogen, selbst Maria soll in Syrien gewesen sein. Unter den späteren syrischen Christen stechen die beiden Kirchenlehrer Ephraim der Syrer und Johannes von Damaskus sowie sechs Päpste hervor. Durch den Krieg ist das Christentum in Syrien allerdings gefährdet. Der christliche Bevölkerungsanteil kann nur geschätzt werden. Die Zahlen schwanken zwischen einer und drei Millionen vor Beginn des Krieges. Auf jeden Fall galt der christliche Bevölkerungsanteil für den Nahen und Mittleren Osten als vergleichsweise hoch. Die aktuelle Zahl der Christen in Syrien ist noch schwieriger zu ermitteln. Einig sind sich die verschiedenen Hilfswerke nur, daß die Zahl unter einer Million liegt. 

Medikamente sind teuer, und es gibt kaum Elektrizität

Wir verlassen das Pfarrhaus und stehen wieder auf der Straße. Die Atmosphäre der leeren Stadt ist gespenstisch. An den Rändern der Straße verteilt sich der Schutt, dazwischen liegen kaputte Haushaltsgegenstände und Spielsachen. Ob man die Stadt wieder aufbauen werde, wisse man nicht, antwortet Erzbischof Barakat auf meine Frage hin. Die Zukunft sei ungewiß. Wir fahren zum nahgelegenen Wahrzeichen Palmyras, der zum Teil über 2000 Jahre alten Tempelstadt. 

Die riesige Anlage ist beeindruckend. Daran können auch die Zerstörungen durch den IS nichts ändern. Der hat an einigen Mauern und Säulen seine grünen Graffiti hinterlassen. Wir sehen einen Soldaten mit Eimer und Bürste, wie er diese zu entfernen versucht. Pfarrer Fuchs erzählt von seinem ersten Besuch in Palmyra vor dem Krieg. Alles sei voller Touristen und Reisebusse gewesen. Es ist kaum vorstellbar, wenn man nun fast alleine zwischen den Säulen mitten in der Wüste steht.

Wir betreten das große Römische Theater aus dem zweiten Jahrhundert. Hier hat der IS nicht nur die antike Bühnenwand gesprengt, sondern während der ersten Besatzung im Sommer 2015 eine Massenhinrichtung vollzogen. Unsere Begleiter erzählen uns, daß zum Teil jugendliche IS-Kämpfer auf der Bühne 25 Männer in Uniformen der Regierungsarmee erschossen hätten, während Hunderte Bewohner Palmyras auf den Rängen zusehen mußten. In einem Propagandavideo des IS ging die Greueltat damals um die Welt. Auf dem Steinboden sehen wir getrocknete Blutspuren. Uns wird klar, warum ein Besuch in Palmyra so schwierig und die Sicherheitsvorkehrungen so hoch sind.

Syrer hoffen auf Ende  der Sanktionen

Nach der Befreiung der östlichen Kleinstadt Baghus im März 2019 erklärten kurdische Kämpfer, der IS sei in Syrien besiegt. Auch die Niederlage der Rebellen gegen Assad steht bevor, da deren letzte Bastionen in den nordwestlichen Regionen um Hama und Idlib derzeit von der Armee der syrischen Regierung mit russischer Hilfe rückerobert werden. Aber alle Probleme des Landes wird das mögliche Ende des Krieges nicht lösen. Immer wieder erzählen uns die Syrer, daß es natürlich gut sei, wenn der militärische Krieg ende, aber dafür sei der ökonomische Krieg im vollen Gange. Gemeint sind die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien, die die Fluchtbewegung aus dem Land weiterhin anheizen. Medikamente sind teuer und wenig vorhanden, Elektrizität zeitlich und örtlich beschränkt und Geldtransfers aus dem Ausland eingeschränkt.

Im Alltag trifft die Menschen vor allem die Knappheit von Benzin. Viele Tankstellen sind stillgelegt. An den wenigen, die geöffnet haben, stauen sich die Autos bis über die Zufahrtsstraßen hinaus. Als wir uns auf der Rückfahrt von der westlichen Kleinstadt Qara befinden, geht auch uns das Benzin aus. Unser Fahrer hält auf dem Seitenstreifen und rennt über die Autobahn auf die andere Seite, wo er von einem der jungen Straßenhändler einen kleinen Kanister Benzin kauft. Das sollte bis Damaskus reichen. Viele Syrer sagen uns, derzeit sei das Wichtigste für ihr Land das Ende der Sanktionen, um die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen ins Ausland wieder zu normalisieren. Oft hören wir auch Kritik an der westlichen Medienberichterstattung über Syrien. Es würden viele Unwahrheiten über die Regierung verbreitet, heißt es.

Nachdem wir unseren Rundgang durch die Ruinen Palmyras beendet haben, verabschiedet sich der Offizier, und wir treten unseren Rückweg an. Vorneweg erneut ein Auto mit zwei Soldaten. Die Fahrt verläuft problemlos. Zurück in Zaidal, bekommen wir im Büro des Erzbischofs Kaffee serviert. Wir bedanken uns für die Organisation der Fahrt, er winkt lächelnd ab und zündet sich eine Zigarette an. Es ist noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Pfarrer Fuchs und ich gehen auf die Straße, als wir Musik hören. Eine Prozession von weit über hundert Jugendlichen und jungen Familien taucht auf, an der Spitze ein Chor und eine Blaskapelle von Pfadfindern. Eine junge Mutter mit Kinderwagen schenkt dem Pfarrer und mir Kerzen. Singend zieht die Prozession weiter durch das kleine Dorf.