© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Pankraz,
der Diskurs und die falschen Liberalen

Wir sollten als überzeugte Liberale nicht dulden, daß die Populisten dabei sind, den öffentlichen Diskurs zu dominieren.“ So oder ähnlich tönt es seit einiger Zeit immer häufiger und lauter aus den Kanälen, vor allem  aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und aus den  sogenannten „Leitmedien“. Der Eindruck verfestigt sich, daß Liberalsein dort vor allem darin besteht, „wachsam“ zu sein,  einen Gesprächspartner permanent darauf zu überprüfen, ob seine Argumente „wirklich liberal“ sind, und im Zweifelsfall sofort dafür zu sorgen, daß der Sünder aus dem Diskurs ausgeschlossen wird. 

Wehe, es findet sich im eigenen Haus eine fest etablierte Leitfigur, die sich auf gemeinsame gelassene Fernsehauftritte mit „Populisten“ einläßt! Gegen sie wird sofort ein regelrechtes Ermittlungsverfahren eingeleitet, um sie aus ihrer gut bezahlten Position zu entfernen, selbst wenn sie diese schon seit Jahrzehnten innehat und sich in all der Zeit niemals etwas zuschulden kommen ließ. Und das alles im Zeichen der Liberalität!  Das Haus insgesamt, so heißt es, sei ja liberal, und deshalb dürfe man nicht hinnehmen, von versteckten Populisten und verstockten Konservativen vorgeführt zu werden. 

Wohlgemerkt: Man bezweifelt nicht die untadelig rechtsstaatliche und freiheitliche Grundhaltung der ins Visier genommenen Führungsfigur, man vermißt an ihr „nur“ einen gewissen politischen Stallgeruch, ein Sich-festgelegt-Haben auf ein ganz bestimmtes Programm. Der eigene Sender wird als eine Art „closed shop“ nach dem Vorbild der britischen Gewerkschaften gesehen. Er ist so liberal, daß er nur erklärte Liberale in seinen Reihen duldet. Eine solche Ausschließlichkeit und Intoleranz widersprechen nun freilich genau dem, was man sich herkömmlicherweise unter Liberalität vorstellt.


Vielfalt, Pluralismus, „leben und leben lassen“ – das sind ja die Tugenden, die man im allgemeinen bei Liberalen erwartet. Aber diese Tugenden sind heute ganz offenbar bei Konservativen sehr viel besser aufgehoben als bei deklarierten Liberalen. Der Konservative mißt die Wirklichkeit nicht an Doktrinen, sondern an ihr selbst. Er weiß, daß sie sich nicht über einen einzigen Leisten schlagen läßt, daß sie sich allen Festlegungen und Programmen immer wieder spotan entzieht, und er respektiert das und sucht sein Heil in der Beschäftigung mit dem jeweils ganz Konkreten. Programme sind ihm Arbeitsmittel, keine „ewigen Wahrheiten“.

Ganz anders der heute politisch aktive Aufsichtsbeamte, der sich als „liberal“ deklariert. Die  „Freiheit“ und „die „Rechte des Individuums“ werden von ihm absolut gesetzt und ohne Rücksicht auf konkrete Gegebenheiten eingeklagt. Er ist dauernd auf der Suche nach Verhältnissen, die seiner Meinung nach nicht hinreichend „verrechtlicht“ sind. Alles Gewachsene und mit Tradition Umflorte ist ihm ein Greuel, und er klagt es zänkisch an, entweder mit der Frechheit dessen, der sich in der Mehrheit weiß, oder mit der Weinerlichkeit dessen, der sich in der Minderheit glaubt.

Die früheren Theoretiker des politischen Liberalismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die Rotteck und Von Mohl, die Dahlmann und Welcker, hatten dabei immerhin noch so etwas wie den Wind der Geschichte hinter sich. Heute aber, da die großen Ideen der Bewegung, die Rechtsstaatlichkeit und der Parlamentarismus, die Anerkennung der Menschenrechte und die Glaubens- und Gewissensfreiheit längst zum Allgemeingut des Volkes geworden sind und der Fortschritt überall an seine natürlichen Grenzen stößt, kann kein Liberaler mehr beanspruchen, mit dem Weltgeist im Bunde zu sein.

Die Klientel des politischen  Liberalismus rekrutiert sich nur noch aus dem, was José Ortega y Gasset hellsichtig „den Salon des zufriedenen jungen Herrn“ genannt hat und was er für den Krebsschaden der modernen Massengesellschaft ansah. Jeder „zufriedene junge Herr“ („jede zufriedene junge Frau“, müßte man heute wohl besser sagen) ist zwar der Erbe einer bedeutenden politischen Tradition, doch er/sie kennt deren Wurzeln nicht mehr und fühlt sich ihm in keiner Weise verpflichtet. Er/sie genießt nur noch die zivilisatorischen Früchte des Fortschritts, wobei er/sie dieses Genießen als „mein gutes Recht“ betrachtet.


Man verlangt wie selbstverständlich absolute soziale Sicherheit, empfindet es dagegen als Zumutung, wenn man ihm gewisse gesellschaftliche Pflichten abverlangt. Er/sie ist nicht bereit, sich über einen Tatbestand gründlich zu informieren, glaubt aber, überall mitreden zu können. Das Leben betrachten er/sie letztlich als einen einzigen Selbstbedienungsladen, allen aktuellen medialen Rufen nach Verboten zum Zwecke der Klimarettung zum Trotz. Denn alle Klimaretter hierzulande wissen sehr wohl, daß sie überhaupt nichts am Weltklima retten können, daß man sich lediglich in willkommenen Wortspielen tummelt.

Ortega (1883–1955) fürchtete die Herrschaft des „zufriedenen jungen Herrn“ ganz außerordentlich, sah in ihr das Generalübel der Moderne in faktisch allen Teilen und Einzelgesellschaften der Erde. Und sie ist, schrieb er, „die Herrschaft eines traditionsvergessenen, immer nur fordernden Liberalismus. Dessen Gefahr liegt darin, daß durch ihn jegliche soziale Energie, die zur Erhaltung nicht nur der abendländischen Gesellschaft notwendig ist, abgesaugt würde.“ Und er sah auch schon die Gefahr des „closed shop“, daß nämlich der Typ des „zufriedenen jungen Herrn“ sämtliche Medien okkupieren und von Andersdenkenden säubern würde.

 Sein Gegenrezept lautete: „Bildung geschichtsbewußter, konservativ-liberaler Eliten, notfalls auch außerhalb der herrschenden Medien“. Das klingt gut, nur sollte man dabei stets im Gedächtnis behalten: Es gibt einerseits den natürlichen Diskurs-Liberalismus, andererseits den perversen politischen Aufseher-Liberalismus, wie wir ihn zur Zeit leider in der Bundesrepublik  erleben. Den ersteren sollte man nie mit dem anderen verwechselns.