© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Pikanterien mit Mata Hari und Kronprinz Wilhelm
Eine beachtenswerte Edition der Aufzeichnungen von Walter Nicolai, deutscher Geheimdienstchef im Ersten Weltkrieg
Jürgen W. Schmidt

Als ich um 8 Uhr abends erschien, empfing mich Mata Hari in einer Toilette, welche mir zeigte, daß sie wohl meinte, mich ebenso gewinnen zu müssen, wie ihre früheren Geldgeber. Einzelheiten unseres Zusammenseins will ich nicht schildern, kann nur sagen, daß sie in dieser Stunde alle Künste einer ganz großen Kokotte spielen ließ, ein bedauernswerter, gerissener Mensch, ungebildet und dumm.“ Das schrieb später der deutsche Geheimdienstchef Walter Nicolai in Erinnerung an sein Zusammentreffen mit der als Mata Hari bekannt gewordenen Spionin Anfang 1916 in einem Kölner Hotel. 

Auf Bitten von Elisabeth Schragmüller, der einzigen hauptamtlichen Nachrichtendienstlerin im deutschen Geheimdienst im Ersten Weltkrieg, sollte er im persönlichen Gespräch Mata Hari begutachten, welche man als Spionin einsetzen wollte. Walter Nicolai hatte bezüglich der Kokotte gleich von Anbeginn ein ungutes Gefühl, ließ sich aber von seinen Unterstellten vom Gegenteil überzeugen, nicht zum Vorteil der Sache, wie der Ausgang lehrt. 

Aber auch sonst findet sich in den publizierten tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, detaillierten Kriegsbriefen an die Ehefrau und nachträglich gemachten Erläuterungen viel Wissenswertes zur deutschen Kriegsführung. Dazu gehören neben psychologisch interessanten Kurzcharakteristiken des Kaisers sowie der leitenden Militärs von Moltke, Falkenhayn, Hindenburg und Ludendorff bis hin zu General Groener viele Details zur deutschen Innenpolitik im Weltkrieg. Diese innenpolitischen Details überwiegen sowohl in Quantität und Qualität das, was Nicolai über den deutschen Geheimdienst, dessen Aktivitäten und Mitarbeiter, zu sagen hat. 

Letzteres ist mitunter erstaunlich trivial, etwa wenn sich der Chef des deutschen Marinenachrichtendienstes Isendahl bei Nicolai im September 1916 erbittet, daß der Marinenachrichtendienst mit „bundesstaatlichen Auszeichnungen“ bedacht werden möge und sich erfreut Ende Oktober 1916 für die Erfüllung seiner Bitte bedankt. Interessanter zu lesen ist, wie sich dieser ursprünglich strikt militärisch ausgerichtete jüngere Generalstabsoffizier auf dem glatten Parkett der deutschen Innenpolitik zu bewegen lernt. Weil man vor Kriegsausbruch die Beaufsichtigung und Betreuung der deutschen Presse und Propaganda durchs Militär völlig zu berücksichtigen vergaß, mußte sich nach Kriegsausbruch der im Obersten Hauptquartier als „troubleshooter“ dienende Nicolai jetzt auch dieser Aufgabe annehmen. 

Obwohl sie ihm unangenehm war und immer mehr von seinen eigentlichen Pflichten als Nachrichtendienstler ablenkte, widmete sich Nicolai der gestellten Aufgabe pflichtbewußt bis Kriegsende. Weil nach Kriegsende der Künstler und vorgebliche „Großindustrielle“ Arnold Rechberg und der umtriebige Zentrumspolitiker Mat-thias Erzberger als vehemente Ankläger von Nicolai auftraten, tut es gut, einmal die nicht für eine Publikation bestimmten Aufzeichnungen des Geheimdienstchefs zu lesen. Erzberger und Rechberg geben darin kein gutes Bild ab, und es wird verständlich, warum Nicolai versuchte, beider Einfluß möglichst gering zu halten. Letzteres gelang ihm im Falle von Erzberger nur ungenügend. 

Daß der bekennende Preuße Nicolai sich nicht scheute, die eigenen Finger zu verbrennen, wenn er damit einen Mißstand beseitigen konnte, zeigt die Liebesaffäre des deutschen Kronprinzen Wilhelm. War anfangs nur daran gedacht, den 32jährigen als Kommandeur einer Garde-Division ins Feld rücken zu lassen, so kam man aus dynastischen Gründen leider zur Auffassung, ihm 1914 gleich eine ganze Armee anvertrauen zu müssen. Wenngleich hier Kronprinz Wilhelm mit seinem militärisch sehr erfahrenen Stabschef einen „Aufpasser“ an die Seite gestellt bekam, welcher ihn von militärischen Mißgriffen fernhielt, so fehlte ihm leider ein derartiger Betreuer für das Privatleben. Wilhelm unterhielt viele Liebschaften, darunter gegen Kriegsende eine zu einer jungen Französin aus den untersten sozialen Schichten. Nicolai entfernte jene Gabriele Beurrière schließlich wegen vorgeblichen Spionageverdachts 1918 ganz konsequent aus dem Umfeld des Kronprinzen und ließ sich durch dessen Bitten und subtile Drohungen nicht erweichen. 

Das Buch, vom Herausgeberkollektiv um Michael Epkenhans und Markus Pöhlmann hervorragend eingeleitet, kommentiert sowie mit exzellenten Strukturschemata des Geheimdienstes sowie einem brauchbaren geographischen und Namens-Index versehen, hat eine interessante Vorgeschichte. Walter Nicolai wurde Ende November 1918 aus seinem ihm liebgewordenen Geheimdienst entfernt und auch später nie wieder als Geheimdienstler verwendet. Dennoch verhaftete ihn der sowjetische militärische Geheimdienst 1945 in seinem Altersruhesitz in Nordhausen. Man verschleppte ihn nach Moskau und horchte ihn hier in vielen Verhören aus, weil man in ihm die graue Eminenz der NS-Geheimdienste zu erkennen glaubte. Mit Nicolai wurde seine gesamtes Privatarchiv nach Moskau verbracht, wo es Mitherausgeber Markus Pöhlmann erstmals in den neunziger Jahren einsah. Dankenswerterweise hat das „Zentrum für Militärgeschichte“ der Bundeswehr in mühevoller Arbeit die Genehmigung zur Kopie des Nicolai-Nachlasses erhalten und die wesentlichsten Teile davon in vorliegendem Werk publiziert.

Michael Epkenhans, Gerhard P. Groß u. a.: Geheimdienst und Propaganda im Ersten Weltkrieg – Die Aufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai 1914 bis 1918. Schöningh Verlag, Paderborn 2019, gebunden, 667 Seiten, 64,95 Euro