© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Ungleiche Denker mit auffälligen Parallelen
Gustav Radbruch und Carl Schmitt: Wechselseitige Wahrnehmung / Erster Teil einer JF-Serie
Björn Schumacher

Führen juristische oder philosophische Brücken von Gustav Radbruch zu Carl Schmitt? Gibt es Überschneidungen im wissenschaftlichen Werk, vielleicht sogar gemeinsame Überzeugungen?

Diese Fragen dürften irritieren. Auf den ersten Blick liegen Welten zwischen den einflußreichsten deutschen Rechtsdenkern des 20. Jahrhunderts. Der 1878 in eine nationalliberale, protestantische Lübecker Kaufmannsfamilie geborene Radbruch fand aus Solidarität mit der Industriearbeiterschaft zum „ethischen Sozialismus“ und trat 1919 in die SPD ein. Um Schlichtung bemüht, geriet er als Kieler Juraprofessor beim rechtsgerichteten Kapp-Putsch in eine bedrohliche „Schutzhaft“. Später kam heraus, daß er hingerichtet werden sollte. Nach dem Zusammenbruch des Aufstands bewahrte Radbruch Hunderte Putschisten vor der Lynchjustiz, hielt aber auch die Grabrede für 32 getötete Kieler Arbeiter. Dies ebnete ihm den Weg zum Reichstagsabgeordneten (1920–1924) sowie in das Amt des Reichsjustizministers in den Kabinetten Wirth (1921/22) und Stresemann (1923). 

Überzeugter Anhänger auch von Liberalismus und parlamentarischer Demokratie, wurde Gustav Radbruch 1933 als erster Hochschullehrer von den Nationalsozialisten zwangsemeritiert. Von den Alliierten umgehend rehabilitiert, kehrte er 1945 auf seinen Heidelberger Lehrstuhl für Strafrecht, Prozeßrecht und Rechtsphilosophie zurück. Ein Jahr nach seiner endgültigen, altersbedingten Emeritierung starb er Ende 1949 an den Folgen eines Herzinfarkts.

Juristische Grenzgänger mit schöngeistigen Neigungen

Carl Schmitt, geboren 1888 im sauerländischen Plettenberg, entstammte einer kleinbürgerlichen, katholischen Familie. Im reichsdeutschen Straßburg habilitierte er sich für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Staatstheorie. Seine Publikationen verrieten zunehmende Distanz zum Parlamentarismus und Pluralismus der Weimarer Republik. Als Berliner Dozent fand Schmitt Zugang zu den Zirkeln politischer Macht und vertrat 1932 die Reichsregierung im Prozeß gegen die staatsstreichartig abgesetzte sozialdemokratische Regierung Preußens („Preußenschlag“). Im letzten Reichskanzler der Republik, Kurt von Schleicher, sah Schmitt zunächst ein Bollwerk gegen die NSDAP. Am 31. Januar 1933 schrieb er in sein Tagebuch: „Las Zeitungen, aufgeregt. Wut über den dummen, lächerlichen Hitler.“

Gleichwohl trat Schmitt alsbald in die NSDAP ein und galt zunächst als „Kronjurist des Dritten Reichs“ (Waldemar Gurian), der politische Morde legitimieren wollte („Der Führer schützt das Recht“) und ein „Übersoll“ an rhetorischer Judenfeindlichkeit lieferte (Bernd Rüthers). Ende 1936 von der SS des Opportunismus verdächtigt, verlor er seine hochschulpolitischen Funktionen, blieb aber bis 1945 ordentlicher Professor in Berlin. Mehrfach kurzzeitig in alliierter Haft, zog sich Schmitt als Privatgelehrter nach Plettenberg zurück. Er starb 1985, avancierte aber weit über seinen Tod hinaus zum rechtsintellektuellen Stichwortgeber. 

Ungeachtet dieses Antagonismus offenbaren die Biographien von Radbruch und Schmitt auffällige Parallelen. Beide waren im ersten Anlauf fragwürdig verheiratet. Radbruchs Ehe mit der charmanten Lina Götz – von ihm als „reizvolles Naturkind ohne Maß für sich selbst“ beschrieben – hielt nur ein Jahr. Schmitt wiederum fiel auf die kroatisch-österreichische Hochstaplerin Pawla Dorotic herein, die er für eine spanische Tänzerin adliger Herkunft gehalten hatte. Seine 1915 geschlossene Ehe wurde nach staatlichem, nicht aber römisch-katholischem Kirchenrecht annulliert.

Schlimmer waren familiäre Tragödien. Die Kinder Radbruchs aus einer zweiten (glücklichen) Ehe starben im Alter von 24 und 18 Jahren: Tochter Renate Maria bei einem Skiunfall, Sohn Anselm in Stalingrad. Carl Schmitts zweite Ehefrau wurde nur 49 Jahre alt; auch sein einziges Kind, Tochter Anima, starb mit 51 Jahren an einer Krebserkrankung – in ihrem Familienwohnort Santiago de Compostela, der für Schmitt zeitweise zum Refugium wurde. 

Zudem waren beide juristische Grenzgänger mit schöngeistigen Neigungen. Radbruch schrieb eine „Kulturlehre des Sozialismus“, entwarf in einer Feuerbach-Biographie faszinierende Psychogramme dieser Künstler- und Gelehrtenfamilie und vollendete die kunstgeschichtliche Dissertation seiner verstorbenen Tochter. Schmitt verfaßte Gedichte und Texte mit mythischen Anspielungen, empfand sich als „Dadaist avant la lettre“, wandte sich der politischen Theologie zu und wird heu-te nicht nur als Staatsrechtler, sondern gleichermaßen als politischer Philosoph rezipiert.

Laut Schmitts Tagebuch trafen sich beide am 13. Januar 1932 in Heidelberg. Schmitt trank mit seinen eher liberalen Kollegen von der dortigen Juristenfakultät „schönen Wein (Deidesheimer Jg. 21)“. Sein Resümee: „Radbruch war besonders nett.“ In dessen anwesende Ehefrau Lydia war Schmitt spontan „verliebt“; sie erinnerte ihn an seine damalige Geliebte. Daß auch Gustav Radbruch, von intellektueller Neugier getrieben, Sympathie für den in der „Konservativen Revolution“ wurzelnden Carl Schmitt empfand, darf man vermuten. In einem Brief an seine Frau hob er hervor, ihn in Leipzig gesehen zu haben.

Dies dürfte die letzte Begegnung zweier Geistesgrößen gewesen sein, die nach 1932 kaum etwas miteinander verband. Nicht nur im „Dritten Reich“, auch nach dessen Zusammenbruch wandelten der philanthrope Moralist Radbruch und der schillernde Antisemit und selbsternannte „Dadaist avant la lettre“ Schmitt auf höchst verschiedenen Pfaden. 

Radbruchs Abrechnung mit Schmitt nach 1945

Dies belegt unter anderem Carl Schmitts postum veröffentlichtes „Glossarium: Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951“. Die Rehabilitierung von Radbruch und dessen Freund Karl Jaspers ließ den vom Lehrbetrieb ausgegrenzten Schmitt in bitterbösen Sarkasmus flüchten: „Radbruch und Jaspers waren nach 1945 die geisteswissenschaftlichen pin-ups des befreiten Deutschlands; sie waren sehr stolz auf ihren success. Heute empfinden sie es empört als Renazifizierung Deutschlands, daß sie langweilig geworden sind und abgehängt werden. Ehe sie damit einverstanden sind, als pin-up abgehängt zu werden, sollen lieber noch einige Deutsche aufgehängt werden. Zu jeder Denunziation entschlossen, erklären sie, daß sie bis zum Äußersten kämpfen werden. Das werden sie auch tun. Ihre Pension werden sie heute so wenig wie 1933 verlieren. Also auf in den Kampf für Redefreiheit und Menschenrechte“ (12. Juli 1949). 

Paranoiden Furor verströmt ein weiterer Glossarium-Eintrag: „Homo homini Radbruch. We don’t kill them, we drive them to suicide. Das ist die Formel für den Ritualmord des streng humanitären Ritus. Man tötet nicht; man treibt den anderen zum Selbstmord, tout doucement“ (8. August 1950).

Was trieb Schmitt in diesen viersprachigen Vulkanausbruch? Vermutlich zwei Sätze Radbruchs zur Schrift eines gewissen Karl Schultes: „Der Niedergang des staatsrechtlichen Denkens im Faschismus. Die Lehren des Herrn Prof. Carl Schmitt, Kronjurist der Gegenrevolution“ (1947). Nachhaltig enttäuscht von den antisemitischen Ausfällen dieses „Kronjuristen“, schrieb Radbruch: „Ein trauriges Kapitel in der Geschichte der Staats- und Rechtstheorie, die situationsbedingten Wandlungen Carl Schmitts, macht Schultes zum Gegenstand einer für die Reinigung des politischen Denkens notwendigen Arbeit. Das Heine-Wort ‘Kein Talent, doch ein Charakter’ könnte hier umgekehrt Anwendung finden“ (Süddeutsche Juristenzeitung, 1948).

Spontan notierte Schmitt in seinem Glossarium: „Auch solche Giftmücken wie Schultes haben ihren Sinn oder wenigstens ihre Funktion. Bei Radbruch kommt vieles zusammen, nicht zuletzt ein in verschütteten Kellerlöchern seines Gemüts immer noch rumorender anti-römischer Effekt. Ein spät-sozialdemokratisch, d. h. hilflos gewordener Holsteiner muß die unbefangene Freiheit eines Menschen katholischer Rasse für undurchsichtig, d. h. ihm nicht zugänglich halten und sie zu machiavellistischer Scheußlichkeit mythisieren. Ich finde das rührend“ (17. Juni 1948).

Deutlich entspannter gab sich Schmitt in späteren Jahrzehnten. Sein „Homo homini Radbruch“ nahm humoristisch-satirische Züge an und mutierte letztlich zum augenzwinkernden „running gag“ (Reinhard Mehring).






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Den zweiten Teil seiner Serie lesen Sie in der kommenden JF-Ausgabe 43/19.