© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Forscher kämpfen gegen die „Plastokalypse“
Die Erforschung von Mikroplastik steht erst ganz am Anfang / Noch keine Wunderwaffen in Sicht
Christoph Keller

Der von der grünen Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) veröffentlichte „Plastikatlas“ überrascht nur durch seine starke Resonanz. Denn Tagespresse wie populärwissenschaftliche Publizistik berichteten darüber, als sei über das seit Jahren öffentlich traktierte Thema Plastikmüll Sensationelles herausgefunden worden. Tatsächlich reduziert sich die Botschaft der mit Daten, Grafiken und Diagrammen aufwartenden Fleißarbeit auf zwei allerdings immer wieder neu schockierende Kernaussagen: die Müllmengen an Land und im Meer nehmen zu, und die Gegenstrategien haben nur bescheidene Erfolge aufzuweisen.

Dünne Datenlage in Sachen Mikroplastik

Kein Wunder, lag doch die weltweite Jahresproduktion von Kunststoffen 1950 bei zwei Millionen Tonnen, während sie heute die 400-Millionen-Grenze erreicht. 6,3 Milliarden Tonnen Plastikmüll hat der Planet in den letzten 70 Jahren insgesamt verdauen müssen. Allein der US-Konzern Coca Cola steuert dazu zehn Millionen PET-Einwegflaschen bei – stündlich wohlgemerkt. Das sind 88 Milliarden Flaschen pro Jahr.

Angesichts einer solchen „Plastokalypse“, wie der Umweltjournalist Markus Wanzeck das unheimliche Phänomen bezeichnet (Natur, 9/19), gleicht Entsorgung einer Sisyphos-Anstrengung. Nur daß der Felsbrocken, den der antike Sagenheld im Hades immer wieder vergeblich aufwärts schiebt, heute eine aus Mikro- und Makroplastik gepreßte Kugel ist, die nach jedem neuen Versuch größer und schwerer wird. Wie der „Plastikatlas“ einmal mehr hervorhebt, würde auch der „Recyclingweltmeister“ Deutschland Sisyphos die ihm von den Göttern auferlegte Fron kaum erleichtern. Denn hierzulande fallen stolze 60 Prozent des Plastikabfalls aus der Kreislaufwirtschaft heraus, weil sie „thermisch entsorgt“, also verbrannt werden. Von den verbleibenden 40 Prozent sei wiederum die Hälfte abzuziehen: Die Entsorger sortieren etwa sechs Prozent des als „recycelt“ klassifizierten Abfalls nachträglich aus und verbrennen ihn. 14 Prozent gelten als „recycelt“, weil man diesen deutschen Plastikmüll nach Afrika und Asien exportiert, wo er auf illegalen Müllkippen landet (JF 27/19).

Um von dort auf windungsreichen Umwegen und nach wundersamen Metamorphosen wieder zurück zum Absender zu gelangen. Das belegt die vielzitierte „Kreditkartenstudie“ von Kala Senathirajah (University of Newcastle/Australien), die auf der Basis von 50 wissenschaftlichen Analysen der globalen Spur des Plastiks folgte. Demnach dürfte jeder Mensch pro Woche bis zu fünf Gramm Plastik zu sich nehmen, das Gewicht einer Kreditkarte.

Für die aus Malaysia stammende Ökonomin stehen solche Aussagen jedoch unter Vorbehalt, da sie von Schlimmeren übertroffen werden könnten, wie sie Wanzeck verrät: „Die Erforschung von Mikroplastik steht erst ganz am Anfang.“ Das gelte ebenso für die gesundheitlichen Auswirkungen des unfreiwilligen Kunststoffkonsums, die sich wegen der „dünnen Datenlagen“ derzeit nicht abschätzen ließen. Womöglich noch problematischer als reines Plastik seien Zusatzstoffe wie Weichmacher, die Unfruchtbarkeit, Diabetes und Leberschäden verursachten.

Unterm Strich verfügt auch, wie Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut (Bremerhaven) einräumt, die Meeresforschung nur über eine „dünne Datenlage“ in Sachen Mikroplastik. Gewiß sei lediglich, daß sich das gewaltigste Plastikdesaster in der Nähe der Küstenmetropolen und Flußmündungen Asiens offenbart. Das ist der Preis, der für Bevölkerungsdichte, rasantes Wirtschaftswachstum und mieses Müllmanagement zu entrichten sei. Genauer: der sichtbare Preis, der mediale Aufmerksamkeit erregt, während Gutow ihn für ein fast oberflächliches Problem hält. Das Gros des Plastikmülls treibe nämlich unter der Wasseroberfläche oder liege auf dem Meeresgrund. „Aussichtslos“ sei es, ihn von dort wieder wegbekommen zu wollen (JF 16/19). Müllfischerprojekte („The Ocean Cleanup“) seien zwar gut gemeint, brächten aber substantiell nur „in viel größerem Stil“ etwas. Doch Plastikjagd mit riesigen Netzen wäre ökologisch kontraproduktiv, weil zu viele Lebewesen in die Maschen gerieten, „die ins Meer hineingehören“.

Gelingt Kreislaufwirtschaft je im Industriemaßstab?

Als ähnlich ineffizient habe sich die 2016 in Japan entdeckte „Wunderwaffe“, das Bakterium Ideonella sakaiensis erwiesen, das Polyethylenterephthalat (PET) frißt. Die Rate, mit der diese Bakterien PET abbauen, sei „erschreckend schlecht“, konstatiert der Hamburger Mikrobiologe Wolfgang Streit. Überdies sei PET nur einer von sieben der weltweit häufigsten Kunststoffe. Für die anderen wie Polyvinylchlorid (PVC) fänden sich weder Organismen noch Enzyme, „die das Zeug anknabbern“.

Angesichts solcher Einschätzungen vermitteln selbst so vage Zukunftsaussichten wie sie eine Forschungsgruppe am Lawrence Berkeley National Laboratory (Nebraska/USA) eröffnet, schon zarte Hoffnungsschimmer. Dort experimentiert man mit Hochleistungskunststoffen, um nach Alternativen zur kostspieligen, energieaufwendigen und zumeist Materialien von geringerer Qualität erzeugenden Wiederverwertung von Duroplasten zu fahnden. Bisher beschränken sich die Erfolge auf Versuche im Grammbereich. Völlig unklar ist, ob der Übergang zur Kreislaufwirtschaft je im Industriemaßstab gelingt (Spektrum der Wissenschaft, 9/19).

Nicht nur die Meere, auch der Boden ist voll Plastik. Und hier, wie Wanzecks Kollegin Henrike Wiemker bei Matthias Rillig (FU Berlin) und Violette Geissen (Wageningen/Niederlande) erfuhr, steckt man gleichfalls erst im Stadium der Pionierforschung. „Was im Boden drin ist, ist unumkehrbar“, dekretiert Rillig und beurteilt die Versuche Geissens, die auf Regenwürmer als Plastikvertilger setzt, eher skeptisch. Abzuwarten bleibt, wie erfolgreich Iris Lewandowski, Leiterin des Fachgebietes Nachwachsende Rohstoffe an der Universität Hohenheim, den Boden gegen Plastik wappnet. Sie erzeugt Bioplastik, das man nach Gebrauch kompostiert.

Doch die Pflanzen dafür muß sie konventionell anbauen. Im großen Maßstab bedeutet das massive fossile Ressourcennutzung. Sollte Bioplastik aus Mais und Kartoffeln 400 Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr ersetzen, wo sollten die Flächen dafür liegen? Die Abholzung von Regenwäldern für „Biosprit“ habe gezeigt, wie Wanzeck warnt, wie „gut gemeinte“ Öko-Ideen ins Gegenteil umschlagen können.

Die Berliner Publizistin Annett Mängel, die über „Die große Recycling-Lüge“ klagt (Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/19), erwartet Abhilfe in der Müllkatastrophe primär nicht von der Wissenschaft, sondern von der Politik. Deren Engagement sie, mit Blick auf jüngste „EU-Trippelschritte“ wie die Plastik-Richtlinie, die einige Einwegprodukte ab 2021 verbietet, wenig zutraut. Denn „für eine wirkliche Lösung müßte Brüssel sich mit den großen Konzernen der petrochemischen Industrie anlegen“, was in letzter Konsequenz darauf zuliefe, „das globale kapitalistische Konsummodell“ zur Disposition zu stellen.

Plastikatlas kostenlos erhältlich über: www.boell.de

Heft „Stoppt die Plastikflut“ (Natur, 9/19): wissenschaft.de

Studie „Human Consumption of Microplastics“: pubs.acs.org