© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/19 / 11. Oktober 2019

Der Flaneur
Landluft macht frei
Paul Leonhard

Wäre er nur einen Zentimeter größer oder die Zimmerdecke einen kleiner, dann würde er mit seinem Haupt diese streifen, so wischt der Hochgewachsene nur die Spinnweben ab, wenn er durch die Räume geht.

Der Poet hat sein verfallenes Gründerzeitdomizil mit den vier, fünf Meter hohen Zimmern und großen Fenstern im Zentrum der Stadt gegen eine Kate am Rande eines Dorfes getauscht, in der wohl früher Häusler und später Flüchtlinge aus dem deutschen Osten gewohnt haben.

Im Dorf sprach es sich herum, daß der Städter auch mit den Händen arbeiten kann.

Hier ist er eingezogen mit Sack und Pack und einem Herzen voller Haß auf die Städter und insbesondere deren Behörden. Die alte Weisheit, daß Stadtluft frei macht, hat sich umgekehrt. 

Die Dörfler haben ihn zwei Jahre lang beschnuppert und als zwar mehr oder weniger verrückt, aber harmlos akzeptiert. Sie nennen ihn Klaus, nach dem letzten Besitzer, oder, ein wenig spöttisch, den „Dichter am Rande des Berges“. Das freut den Zugezogenen: Das beweise doch, daß sie ihn in ihr Herz geschlossen haben.

Der Bauer, der oben sein Feld bestellt, steigt manchmal zu dem schier in den Hang eingegrabenen Häuschen herunter und eine Stunde später mit schwerem Kopf wieder hinauf. Weil der Künstler zu sehr philosophiert hat und es nicht bei dem einen Gläschen Pflaumenschnaps geblieben ist.

Als das Häuschen nach einem Dauerregen fast unter einer Schlammlawine verschwand, haben die Dörfler beobachtet, wie er es wieder freigrub und dann Schindeln für das kaputte Dach zurechtschnitt. Im Dorf sprach es sich herum, daß der blasse Städter auch mit den Händen zu arbeiten weiß und nicht nur Verse schmiedet. Seitdem arbeitet er ein paar Stunden beim Tischler. Ab und an kommen auch Dorfschönheiten vorbei, um ihm Reime abzulauschen und ihn Mundharmonika spielen zu hören. Zum Frohsinn des Einsiedlers haben sie mitunter Wein, Brot und Wurst, zu seinem Leidwesen immer Burschen dabei.