© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Rituelles Gerede
Nach Halle: Die Reaktionen auf den antisemitischen Anschlag zeugen von Heuchelei
Michael Paulwitz

Auch eine Woche nach dem Terroranschlag von Halle klingt die öffentliche Erregung nur langsam ab. Das Verbrechen eines radikalisierten Wahnsinnigen, der am höchsten jüdischen Feiertag ein Blutbad in der Synagoge von Halle anrichten wollte, mit seinen selbstgebastelten Waffen lediglich an der massiven Eingangstür scheiterte und anschließend wahllos zwei Menschen tötete und weitere verletzte, hat die Republik erschüttert. 

Die anschließende öffentliche Debatte hat allerdings vor allem eines offenbart: die Unfähigkeit zur Lageanalyse seitens einer politischen und medialen Elite, die das Beschwören von Wünschbarkeiten für Realität und rituelles Gerede für Handeln hält und daher im Umgang mit konkreten Ereignissen und Herausforderungen, die sich nicht in das simple Raster vorgefertigter Denk- und Sprechschablonen pressen lassen, heillos überfordert ist. War ein Anschlag wie der von Halle tatsächlich „unvorstellbar“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich phrasendreschend vernehmen ließ? Natürlich nicht. 

Wer auch nur halbwegs wachen Blicks im Deutschland unserer Tage lebt, der muß mitbekommen haben, daß antisemitische Vorfälle und Übergriffe leider ganz und gar nichts Außergewöhnliches mehr sind. „Antisemitismus darf keinen Platz in unserer Gesellschaft haben“ – noch so eine Phrase, die so verlogen ist, wie sie etablierten Politikern bei jeder Gelegenheit leicht von den Lippen kommt. Verlogen schon deshalb, weil Antisemitismus in weiten und nicht nur links-grünen Kreisen nicht nur geduldet, sondern sogar angesagt und schick ist, sofern er nur als „Israel-Kritik“ oder „Antizionismus“ daherkommt; und weil es gängige politische, mediale und juristische Praxis ist, den von muslimischen Einwanderern ausgehenden Antisemitismus nach Kräften zu ignorieren und kleinzureden. 

Nur wenige Tage vor der Tat von Halle war ein Syrer in Berlin mit „Allahu Akbar“ und israelfeindlichen Flüchen auf den Lippen und dem gezogenen Messer in der Hand auf eine Synagoge losgestürmt. Weil außer Hausfriedensbruch „kein weiterer Tatverdacht“ vorliege, wurde der Mann tags darauf wieder auf freien Fuß gesetzt. 

Das kann als Einladung verstanden werden – von Antisemiten gleich welcher Couleur. Ebenso wie die alljährlichen israelfeindlichen „al-Quds“-Demonstrationen, oder „Palästinenser“-Kundgebungen, bei denen die Behörden nicht das Brüllen übelster judenfeindlicher Parolen, sondern das Zeigen von Israel-Fahnen als „Provokation“ werten und unterbinden. Oder judenfeindliches Mobbing an Brennpunktschulen, Überfälle auf Rabbiner oder Kippa-Träger, Zeitungskarikaturen und Magazintitel, die mit antisemitischen Klischees spielen – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ja, es gibt rechtsradikalen Antisemitismus und rechtsextreme Gewalt in Deutschland, es hat sie, schlimm genug, immer gegeben. 

Aber es gibt eben auch linksradikalen und islam-extremistischen Antisemitismus und Terror aus dieser Ecke. Die Zahlen sprechen dafür, daß in Deutschland lebende Juden den importierten Antisemitismus sogar noch akuter und bedrohlicher erleben als den immer schon dagewesenen.

Es gäbe also Grund genug für die politischen Führungsebenen dieses Landes, gerade nach einem schockierenden Mordanschlag wie in Halle, in sich zu gehen und über die Korrektur politischer Fehlsteuerungen nachzudenken. Verüben Ausländer Gewaltverbrechen an Deutschen, ist oft die Relativierungsformel zu hören: Es hätte ja auch ein Deutscher sein können. Umgekehrt gilt dieses Denkmuster offenbar nicht. Gerade im Fall antisemitischer Haßverbrechen gibt die reale Bedrohungslage aber allen Anlaß, das gesamte Spektrum extremistischer Gewalt ins Visier zu nehmen. Und zwar mit den Mitteln von Recht und Gesetz und nicht mit intransparenter Volkspädagogik, die letztlich nur wieder das Paralleluniversum unkontrollierbarer steuerfinanzierter Privatvereine stärkt.

Es hat den Geruch der Heuchelei, wenn ein Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sonst keine Hemmungen hat, sich mit palästinensischen und iranischen Judenhassern zu verbrüdern, sich verbal zum Vorkämpfer gegen Antisemitismus aufschwingt; wenn eine Kanzlerin, die ein ganzes Jahr brauchte, um sich zu einer Begegnung mit den Hinterbliebenen des islamistischen Terroranschlags vom Breitscheidplatz drängen zu lassen, sofort demonstrativ einer Berliner Synagoge einen Solidaritätsbesuch abstattet. Da wird mit Worten und Symbolpolitik eine Scheinwelt erschaffen, die mit dem politischen Alltagshandeln wenig gemein hat. 

Auf die Spitze getrieben wird diese Spiegelfechterei, wenn Politiker der Regierungsparteien und von Grünen und Linken, die sonst sofort „Instrumentalisierung“ schreien, wenn jemand Fakten benennt, die ihr Weltbild stören, der Oppositionspartei AfD eine „Mitschuld“ an dem Terroranschlag von Halle andichten und deren Abgeordnete als „politischen Arm des Rechtsterrorismus“ diffamieren.

Mehr als obskures Geraune, es sei die „Sprache“ der Kritiker von Multikulturalismus und unkontrollierter Migration, die auf quasi metaphysischem Wege direkt zu Terror und Gewalt führe, haben sie als Argument dafür nicht anzubieten. Primitiver kann eine verbrecherische Tat kaum tagespolitisch mißbraucht werden. 

Daß ausgerechnet diejenigen ihren Gegnern eine „Spaltung“ der Gesellschaft vorwerfen, die sich selbst ausgiebig der Rhetorik des geistigen Bürgerkriegs bedienen, ist dabei mehr als nur eine ironische Fußnote: Es dokumentiert den fundamentalen Unwillen und die tiefsitzende Unfähigkeit, sich komplexen Problemen zu stellen, die durch eigenes Handeln oder Wegschauen erst geschaffen oder doch dramatisch verschärft worden sind. Und das ist in der Tat alarmierend.