© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Der nette Nachbar von nebenan
Thüringen: Ministerpräsident Bodo Ramelow dominiert die Schlußphase des Wahlkampfs / CDU in schwacher Position
Jörg Kürschner

Was den Regierungschefs von Sachsen und Brandenburg, Michael Kretschmer (CDU) und Dietmar Woidke (SPD) erst in der Schlußphase des Wahlkampfs gelang, die wahlentscheidende Steigerung ihrer Popularität, das ist für den Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow kein Thema. Seit langem ist der Linken-Politiker mit Abstand der beliebteste Politiker im Freistaat. Nach der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa wünschen sich 42 Prozent der Befragten Ramelow auch nach der Landtagswahl am 27. Oktober als Ministerpräsidenten, Tendenz steigend. CDU-Herausforderer Mike Mohring kommt gerade mal auf 15 Prozent, Tendenz gleichbleibend. Von AfD-Landeschef Björn Höcke wollen zehn Prozent regiert werden.

Die bemerkenswerte Popularität Ramelows erklärt sich mit der Jovialität und Verbindlichkeit des Mannes, dessen Partei nach den krachenden Niederlagen zuletzt in Sachsen und Brandenburg in einer tiefen Krise steckt. Doch Widersprüchlichkeiten werden dem 63jährigen nachgesehen, wie die gerade wieder aufgeflammte Diskussion über den Unrechtsstaat zeigt. Im Wahlkampf 2019 lehnt der Linke den Begriff für die DDR ab, in der Koalitionsvereinbarung mit SPD und Grünen akzeptierte er 2014, daß „die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat“ war. Das spielt im Wahlkampf ebensowenig eine Rolle, wie daß der einzige linke Ministerpräsident seine Einstimmenmehrheit im Landtag seit mehr als zwei Jahren einem zur SPD übergelaufenen AfD-Abgeordneten verdankt.

Daß es hinter Ramelows leutseliger Fassade weniger heiter aussieht, wußte die einstige SPD-Abgeordnete Marion Rosin zu berichten, die Ramelow bei ihrem Wechsel zur CDU ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hatte. „Diese Koalition wird durch die dogmatisch-ideologischen Führungskader der Linken geprägt.“ Ramelows unbestrittener Führungskader ist dessen Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff, ein linker Vordenker, der erst kürzlich programmatische Geburtshilfe für die neue rot-rot-grüne Koalition in Bremen leistete. Als „Mann fürs Grobe“ wird Hoff, der zugleich das Kulturressort leitet, in Thüringer Redaktionen beschrieben. Die Linie der Landesregierung werde „deutlich kommuniziert“, heißt es.

In der Staatskanzlei wurde auch die Grundlage für das Wahlkampfmotto „Bodo oder Barbarei“ gelegt. Es soll suggerieren, stabile Verhältnisse seien nur mit Ramelow möglich. Und in der Tat könnte die Koalitionsbildung kompliziert werden. Thüringen ist das bisher einzige Bundesland, in dem es den Umfragen zufolge eine rechnerische Mehrheit von Linken und AfD gibt. Danach kann ohne eine dieser beiden Parteien keine funktionsfähige Regierung gebildet werden. So könnte der Wahlabend für CDU-Chef Mike Mohring zum Alptraum werden. Die CDU, die derzeit in allen Umfragen hinter Linken und AfD liegt, hätte zu entscheiden, ob sie sich mit der AfD auf ein bürgerlich-konservatives Bündnis einläßt oder eine Regierung Ramelow mitträgt. Nur wenn Rot-Rot-Grün seine Mehrheit verteidigt, was auch vom Einzug der FDP in den Landtag abhängt, bliebe der CDU diese Entscheidung erspart. 

„Wegen der rechnerischen Mehrheit von Linke und AfD hat die CDU keine Machtoption, wenn sie jegliche Zusammenarbeit mit beiden Parteien ausschließt“, analysiert Insa-Chef Hermann Binkert die unübersichtliche Lage. Ramelow kann sich also relativ entspannt zurücklehnen, auch weil die Landesverfassung seine rechtliche Position stärkt. Er bleibt geschäftsführend im Amt, solange kein Nachfolger gewählt worden ist. Vorsorglich hat das Dreierbündnis die Klippe Haushaltsabstimmung umschifft, indem es mit der alten Mehrheit den Etat unter Tumulten im Landtag bereits für 2020 verabschiedet hat. Mohring hält das Vorgehen für verfassungswidrig, verzichtete aber auf eine Klage.

Abschiebeinitiative der AfD sei „faschistisch“

Eine Mehrheit für die von der CDU angestrebte „Regierung der bürgerlichen Mitte“ scheint nicht in Sicht, sieht man von einer schon rechnerisch eher unwahrscheinlichen Riesenkoalition mit SPD, Grünen und FDP ab. Zudem machen Moh-ring „Parteifreunde“ das Leben schwer. Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, hat seinen thüringischen Kollegen als „netten Nachbarn“ im Bundesrat erlebt, Kurt Biedenkopf, einst geachteter Regierungschef in Sachsen, und selbst Alt-Bundespräsident Joachim Gauck mahnten, die Linken unter Ramelow nicht auszugrenzen. Einen „verheerenden Eindruck“ vermittle die Bundes-CDU, kritisierte Moh-

ring, ohne seine ungebetenen Ratgeber beim Namen zu nennen.

Ratschläge braucht die SPD offenbar nicht, denn sie hat erstmals auf die Nominierung eines Ministerpräsidentenkandidaten verzichtet. Parteichef Wolfgang Tiefensee und seine Genossen werden den Umfragen zufolge jedoch die Fünfprozenthürde locker nehmen. Für Tiefensee, den Wirtschaftsminister, ist Rot-Rot-Grün die einzige Alternative. Ebenso wie die SPD setzen die Grünen bis zur Selbstverleugnung auf den Landesvater-Effekt Ramelows. 

Umweltministerin Anja Siegesmund sucht sich als Spitzenkandidatin gegen AfD-Spitzenmann Björn Höcke zu profilieren, dessen Äußerungen zum Asylrecht (Abschiebeinitiative 2020) sie kürzlich als „faschistisch“ diffamierte. Ganz anders Ramelow. Von Ausgrenzen hält er nichts. Gibt er Höcke zur Begrüßung die Hand? „Selbstverständlich, ich mache ihn doch nicht zum Helden. So viel Höflichkeit gestatte ich mir.“