© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Ländersache: Sachsen
Penne ohne Pauker
Paul Leonhard

An der Universitätsschule in Dresden-Plauen ist alles anders als gewohnt. Für die derzeit 207 Kinder im Alter zwischen sechs und elf Jahren gibt es weder traditionelle Klassen noch Unterricht oder Lehrer. Auch Zensuren spielen im Alltag keine Rolle.

Ein Tablet zeigt Lisa acht Uhr morgens den heutigen Lehrplan an. Gestaltet hat ihn die Elfjährige weitgehend selbst. Deswegen hat sie in einer halben Stunde ein „Zielvereinbarungsgespräch“ mit einem „Lernbegleiter“. Mit diesem wird sie über ihre Lernziele für die nächsten Wochen sprechen. Ab 9.15 Uhr wird Lisa mit vier anderen Schülern 150 Minuten an dem Projekt „Floßbau“ arbeiten. Ziel ist es, über das Experimentieren das Archimedische Prinzip zu verstehen und am Ende mit einem Floß über die Elbe zu fahren, ohne dabei naß zu werden.

Nach dem Mittagessen in der Mensa wird Lisa 90 Minuten Vorschülerinnen im Fußball trainieren, während ihre Freunde Theater- oder Musikunterricht haben, in der Robotic-AG aktiv sind oder sich in sozialen Projekten der Kommune engagieren. Anschließend steht eine Stunde Selbstlernzeit an. Lisa wird sich allein oder mit Mitschülern auf einen Mathetest vorbereiten. Sie kann sich dazu die Hilfe von Lernbegleitern holen. Wann sie zur Prüfung antritt, entscheidet sie selbst. Als letzte Tagesaufgabe wird das Mädchen Präsentationen moderieren, bei denen Schüler auf englisch ihre Projektergebnisse zum Hebelgesetz, Shakespeare, der DNA und der Reformation vorstellen. Spätestens 18 Uhr muß die Elfjährige nach Hause gehen, dann schließt die Schule.

So sieht ein Tagesablauf im Konzept für die Dresdner Universitätsschule aus. Das von TU-Professorin Anke Langner erarbeitete Projekt wird seit August umgesetzt. Die Landeshauptstadt hat dafür ein Schulgebäude zur Verfügung gestellt, und Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) ist stolz auf diesen „wichtigen Baustein, um Dresdens Schullandschaft zukunftsfähig zu gestalten“.

Individuelle Lernwege, digiale Werkzeuge und wissenschaftliche Begleitung heißen die Schlagworte für den bundesweiten einmaligen Modellversuch. Von einer Schule, die Lernen in neuen Dimensionen denkt, bei der das individuelle Lernen und der Entwicklungsweg jedes einzelnen Schülers im Mittelpunkt stehe, schwärmt TU-Rektor Hans Müller-Steinhagen. Vorgesehen ist, daß die Schüler in kleinen Projektgruppen von maximal fünf Kindern lernen. An der Bildung der Gruppen sind Lehrer beteiligt. Jeweils ein Lerncoach soll 15 Schüler betreuen und mit diesen Zielvereinbarungen schließen. Ihre Stundentafel können sich die Kinder selbst bauen. Außerdem sieht das Konzept vor, daß zwischen 85 und 110 Schüler eine „soziale Einheit“ bilden. Das Nichtbeherrschen der Bildungssprache Deutsch werde kein Nachteil sein, heißt es im Schulkonzept.

2024 soll die Schule mit dann 800 Schülern ihre Endausbaustufe erreicht haben. Von einem „umfänglichen Modellversuch, bei dem innovative Formen des Lehrens, Lernens und Zusammenlebens aller Schüler erarbeitet, erprobt und wissenschaftlich ausgewertet werden“, spricht Modellerentwicklerin Langner. Wenigstens wurde daran gedacht, Schülern gegebenenfalls eine Rückkehr ins sächsische Regelschulsystem zu ermöglichen: Es gibt ab der zweiten Klasse Notenzeugnisse zum Ende des Schuljahres, ab der vierten Klasse zum Halbjahr.