© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Chronik des Grauens
Attentat in Halle: Sein Haß auf Juden treibt den 27jährigen Stephan B. zu einem brutalen Amoklauf / AfD wird mitverantwortlich gemacht
Björn Harms

Am späten Vormittag des 9. Oktober setzt sich der 27jährige Stephan B., glatzköpfig und in Tarnklamotten gekleidet, in ein Auto, eigens für diesen Tag angemietet. Er schaltet die Kamera seines Samsung S8-Mobiltelefons ein und hält sie auf sein Gesicht. „Hi, my name is Anon“, spricht er in gebrochenem Englisch ins Handy, während er das Gezeigte auf dem Streamingdienst Twitch live im Internet verbreitet. Anon ist eine in Internetforen wie 8chan übliche anonyme Vorstellung. „Ich glaube, den Holocaust hat es nie gegeben“, führt B. fort. Er flucht über Feminismus und Masseneinwanderung und macht den in seinen Augen Schuldigen dafür aus: den Juden. 

„Ich kam nicht mehr an ihn ran“, wird sein Vater später der Bild-Zeitung erklären. Sein Sohn, der bei seiner Mutter lebte und Hartz IV bezog, habe ständig am Computer gesessen und in einer virtuellen Welt gelebt. „Er war weder mit sich noch mit der Welt im reinen, gab immer allen anderen die Schuld.“

Sein ursprünglicher Plan scheitert an einer Holztür

Auf dem Beifahrersitz verstaut B. unzählige mit Hilfe eines 3D-Druckers gebastelte Waffen, darunter eine Maschinenpistole, eine Schrotflinte und vier Kilogramm Sprengstoff. Dann fährt er los. Sein Ziel: die Synagoge im Paulusviertel in Halle (Sachsen-Anhalt). „Es ist der nächstgelegene Ort mit einer hohen Anzahl von Juden, so einfach ist das“, begründet B. in einem ebenfalls auf englisch verfaßten Bekennerschreiben, das er zuvor ins US-amerikanische Internetforum Kiwi Farms gestellt hat und das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. „Tötet alle Juden“, lautet dort seine klare Botschaft. An diesem Mittwoch ist Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Der Attentäter hofft, möglichst viele Personen in der Synagoge anzutreffen.

„Bitte laß die Tür offen stehen“, hört man B. mit unsicherer Stimme sagen, als er vor seinem Anschlagsziel eintrifft. Doch die Holztür zur Synagoge ist verschlossen. „Scheiß drauf, dann spreng ich mich halt rein!“ B. läuft hektisch hin und her, dann nimmt er einen selbstgebastelten Sprengsatz aus seiner Tasche, zündet die Lunte an und wirft ihn über die Mauer. Ein Knall ertönt. Wenige Sekunden später plaziert er einen weiteren Sprengsatz direkt an der Tür. Doch die folgende Explosion ist nicht lauter als die eines Silvesterböllers. Am Tor ist kein großer Schaden ersichtlich. 

Eine Frau läuft an ihm vorbei. „Muß das sein, wenn ich hier langgehe? Mann, ey!“ ruft sie B. genervt entgegen. Anscheinend ist sie sich der drohenden Gefahr überhaupt nicht bewußt. Sie nimmt den Täter nicht ernst, dreht ihm sogar den Rücken zu. Das ist ihr Todesurteil. B. nimmt seine Waffe, zielt und schießt der bereits an ihm vorbeigegangenen Frau, der 40jährigen Jana L., unvermittelt dreimal in den Rücken. Das Opfer, von Freunden als lebensfreudiger Mensch und großer Schlagerfan beschrieben, fällt leblos nach vorne zu Boden. 

B.wendet sich erneut der Tür zur Synagoge zu und will mit seiner Handfeuerwaffe das Schloß aufbekommen. Doch die Waffe klemmt. „Verkackt, scheiß drauf! Komm ich nicht rein“, flucht der Täter und geht Richtung Auto. Als sein Blick wieder auf die tote Frau fällt, nimmt er erneut seine Waffe und legt an. „Schwein“ kommt es haßerfüllt aus ihm heraus. Er schießt mehrere Kugeln in ihren leblosen Körper. Gleichzeitig trifft er dabei den Reifen seines Wagens. „100 Prozent Fail, haben wir selten hier“, bemerkt der Täter lakonisch.

Plötzlich taucht ein weiterer Autofahrer auf. Er hat die Leiche der Frau auf der Straße liegen sehen und steigt aus. Unverständliche Worte fallen. „Wie bitte!?“ schreit der Täter zurück und lädt seine Waffe, um den Mann ebenfalls zu erschießen. Erneut versagt seine Technik. Der Mann steigt nach einiger Zeit langsam in sein Auto und fährt davon – eine bizarre Szenerie. Im Anschluß versucht B. mehrmals die Tür zur jüdischen Synagoge aufzuschießen, hat aber keinen Erfolg. Frustriert zieht er von dannen.

Mittlerweile sind seit Beginn des Videos 15 Minuten vergangen. Der Mörder steigt in sein Auto, entschuldigt sich bei seinen imaginären Zuschauern, was für ein Versager er doch sei, und fährt weg, während um 12.11 Uhr die Polizei vor der Synagoge eintrifft und die Leiche der Frau findet. Kurze Zeit später hat B. spontan ein neues Ziel auserkoren. „Döner, nehm ma!“ sagt er und hält vor einem Dönerladen. Er stellt sein Auto ab und geht beladen mit unterschiedlichsten Waffen zum Eingang des Geschäfts. Ein Sprengsatz detoniert an der Außenfassade. 

Im Laden suchen zwei Personen Schutz hinter Getränkekühlschränken. B. will direkt losfeuern, aber erneut fällt aufgrund von Ladehemmung kein Schuß. Ein Mann flieht ins Hinterzimmer, der andere fleht an Ort und Stelle um Gnade. „Halt die Fresse, Mann!“ ruft B., drückt erneut ab, diesmal funktioniert die Waffe. Das Opfer, der 20jährige Maler Kevin S. aus Halle, der dort gerade Mittagspause macht, sackt zusammen.

„Weder rechtsextrem noch antisemitisch“

Nun macht B. vor dem Dönerladen Jagd auf vorbeilaufende Passanten. Er schießt ihnen hinterher, trifft sie allerdings nicht, sie rennen davon und entkommen. Frustriert betritt der Täter den Dönerladen und schießt auf sein vorheriges Opfer. „Der lebt ja immer noch“, brüllt er.

Dann steigt der Mörder in sein Auto und fährt los. Ein Streifenwagen kommt ihm entgegen. „Ah, das ist Polizei und jetzt sterb ich“ sagt B. und hält an. Er steigt aus dem Wagen und beginnt sofort auf die Polizei zu schießen. Die Polizei erwidert das Feuer und trifft ihn am Hals. B. wird zu Boden geschleudert, rettet sich jedoch in seinen Wagen. Nach kurzer Fahrt verabschiedet sich der Täter von seinem imaginären Publikum und wirft anschließend das Handy aus dem Fenster. Um kurz vor 13 Uhr meldet die Polizei Halle einen Großeinsatz. 

B. flieht mit dem Auto ins nahe gelegene Wiedersdorf, zehn Kilometer östlich von Halle, wo er den Besitzer einer Autowerkstatt bedroht. Erneut fallen Schüsse. B. hält ein Taxi an, um mit diesem weiterzufahren. Auf der B91 nahe Zeitz kollidiert er mit einem Lkw, wird von zwei Streifenpolizisten gestellt und verhaftet. Mittlerweile sitzt Stephan B. in der JVA Halle ein, hat umfassend ausgesagt und ein rechtsextremes Motiv bestätigt. Sein Pflichtverteidiger beschreibt ihn als „sozial isoliert“. An einen Mittäter oder Mitwisser glaube er nicht. 

Einen Mitschuldigen haben viele Politiker unterdessen bereits ausgemacht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sah kurz nach der Tat auch „einige Vertreter der AfD“ in der Verantwortung. Er bezeichnete sie im Bayerischen Rundfunk – ohne konkrete Zitate zu benennen – als „geistige Brandstifter“. Ähnlich äußerte sich SPD-Politiker Karl Lauterbach: „Es ist die Hetze der AfD, die dem Rechtsextremismus eine politische Stimme gab. Durch diese Hetze fühlen sich einzelne Verbrecher legitimiert, ihre Grausamkeiten zu begehen.“ 

Die Vertreter der AfD weisen diese Vorwürfe von sich. Am Samstag nahm Parteichef Jörg Meuthen auf dem Landesparteitag der hessischen AfD direkten Bezug auf die Tat. „Es gibt einen militanten Rechtsextremismus, der ist hochgefährlich und er gehört mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft“, sagte er. „Die AfD schließt sich dieser Forderung ohne die geringste Einschränkung an.“ Seiner Partei gehe es darum, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen, während die Innenminister – von Horst Seehofer bis Joachim Herrmann  – sich lediglich in „Betroffenheitsritualen überbieten“ würden. 

Auch die parteiinterne Vereinigung der Juden in der AfD (JAfD) hat kein Verständnis für die Vorwürfe. „Die einzige Hoffnung für uns jüdische Deutsche ist die AfD“, schrieb die Bundesvorsitzende Vera Kosova auf Facebook. „Diese ist weder rechtsextrem noch antisemitisch, wie uns die Massenmedien einzureden versuchen, ganz im Gegenteil.“ 





Lebensbedrohliche Einsatzlagen

Die ersten Polizisten, die auf den schwerbewaffneten Attentäter von Halle trafen, waren keine Mitglieder eines Spezialeinsatzkommandos, sondern „normale“ Streifenbeamte. Auf Ordnungshüter wie sie sind in jüngster Vergangenheit neue Herausforderungen zugekommen, seit (zumeist islamistisch motivierte) Terroristen Anschläge in Deutschland sowie in anderen westeuropäischen Staaten verübten. Regelmäßig sind Streifenpolizisten die ersten am Einsatzort, sie müssen als sogenannte „Erstinterventionskräfte“ sofort handeln, auch unter hoher Eigengefährdung. Im Fachjargon spricht man von „lebensbedrohlichen Einsatzlagen“ (lebEL), die in ihrer frühen Phase durch eine unklare Situation gekennzeichnet sind. Mit aufwendigen Übungen sollen Beamte der Bundes- und Landespolizeien verstärkt auf solche Szenarien vorbereitet werden, Einsatzkonzepte und -taktiken einstudieren. Für die Kontroll- und Streifenbeamten (KSB) der Bundespolizei sind laut Bundesinnenministerium pro Jahr 15 Fortbildungstage für lebEL vorgesehen. Neben dem Training der Polizisten muß auch ihre Ausrüstung angepaßt werden. So sollen zur Standardausstattung von Vollzugsbeamten mittlerweile sogenannte ballistische Schutzhelme gehören, die bei relativ niedrigem Gewicht vor Schußwaffen bis zu einem Kaliber von neun Millimetern und Explosionssplittern schützen. Neue Platten-Schutzwesten sind in der Lage, unter anderem Hartkerngeschosse aus Sturmgewehren abzuhalten. Nieder-sachsen stattet beispielsweise als erstes Bundesland seine Polizei im täglichen Dienst auch mit kugelsicheren Visieren aus. Die notwendige Aufrüstung der Sicherheitskräfte hat indes auch Konsequenzen bei den Transportmitteln. Immer mehr Innenministerien – etwa in Nordrhein-Westfalen sowie in Sachsen-Anhalt – satteln auf Familienvans als Funkstreifenwagen um, die die bisherigen Mittelklassewagen ersetzten; nicht zuletzt um ballistische Helme und Schutzwesten zusätzlich zu den standardmäßigen Maschinenpistolen samt Munition unterbringen zu können. (vo)