© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Spöttisch gegen Konservative
70 Jahre „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: Das meinungsprägende deutsche Leitorgan hat viel von der Tuchfühlung mit dem Leser verloren
Karlheinz Weissmann

Meine erste Begegnung mit der FAZ – der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – liegt mehr als vier Jahrzehnte zurück. Damals kam unser Gemeinschaftskundelehrer in den Klassenraum und wedelte mit kleinen Heftchen im Postkartenformat. Die enthielten Gutscheine für Probeabonnements der großen Tageszeitungen: neben der FAZ die Süddeutsche Zeitung, die Welt und die Frankfurter Rundschau. Als Schüler konnte man die Blätter erst einmal kostenlos und dann zu einem Spottpreis – verglichen mit den normalen Kosten – beziehen. Unser Lehrer warb eindringlich dafür, das Angebot zu nutzen, der „mündige Bürger“ mußte schließlich informiert sein. Folgsam bestellte ich nacheinander die verschiedenen Zeitungen, und relativ rasch schieden Frankfurter Rundschau – zu links – und Süddeutsche – zu antiamerikanisch – aus. Die Entscheidung zuungunsten der Welt fiel nicht aufgrund der damals üblichen Affekte gegen alles, was aus dem Hause Springer kam, sondern weil mir die dort vertretenen Positionen zu holzschnittartig waren.

Es blieb die Frankfurter Allgemeine, und bis in die 1990er Jahre nutzte ich sie nicht nur als Informationsquelle, sondern auch als Orientierungshilfe. Was die FAZ rezensieren ließ, mußte man zur Kenntnis nehmen, vor allem, wenn es um politische Neuerscheinungen ging; Themen, die am Wochenende die Tiefdruckbeilage „Bilder und Zeiten“ vorstellte, waren es wert, vertieft zu werden, und wenn meine persönlichen Favoriten – Friedrich Karl Fromme, Karl Feldmeyer, Ernst-Otto Maetzke, Günther Gillessen – einen Leitartikel verfaßten, klärte das die Richtung, in der man zu argumentieren hatte.

Die Orientierung an der FAZ war für einen Gymnasiasten, dann für einen Studenten der Geisteswissenschaften und zuletzt einen Lehrer in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Als ich mich bei einem Dozenten für eine Prüfung wieder in Erinnerung bringen wollte, gelang das nicht, bis ihm einfiel, daß ich die Stirn gehabt hatte, in den Vorlesungspausen demonstrativ die Frankfurter Allgemeine aufzuschlagen. Und mein Vater quittierte die Verstopfung unseres Briefkastens mit der Samstagsausgabe und ihrem riesigen Anzeigenteil regelmäßig mit den Worten: „Ah, das Organ des Großkapitals.“

Mit dem Wirtschaftswunder begann der Aufstieg der FAZ

Daß diese Einschätzung nicht ganz abwegig war, kann man jetzt der Darstellung zur Geschichte der Frankfurter Allgemeinen von Peter Hoeres entnehmen. Denn bei der Rekonstruktion der Faktoren, die zur Gründung der FAZ beitrugen, steht nicht die Kontinuität zur berühmten Frankfurter Zeitung im Vordergrund, sondern die Entschlossenheit, mit der Unternehmerkreise der frühen Bundesrepublik darangingen, ein Blatt ins Leben zu rufen, das gegen die „antikapitalistische Sehnsucht“ der Deutschen eine marktwirtschaftliche Position beziehen sollte.

Faktisch war das erst nach Aufhebung des Lizenzzwanges möglich, den die Sieger in ihren Besatzungszonen ausgeübt hatten. So trat die Frankfurter Allgemeine als letzte überregionale Tageszeitung auf den Plan, und es war keineswegs ausgemacht, daß sie Erfolg haben würde; einmal, zu Beginn der 1950er Jahre, berichtet Hoeres, war schon ein Konkurs­antrag vorbereitet.

Aber mit dem „Wirtschaftswunder“ begann auch der Aufstieg der FAZ, deren Kernmannschaft nicht ohne Grund als „Brigade Erhard“ apostrophiert wurde, weil sie den Kurs des Ministers im Kabinett Adenauer, dann des Kanzlers Ludwig Erhard nachhaltig unterstützte. Hoeres betont allerdings, daß diese Allianz kein Hinweis auf prinzipielle Regierungsfrömmigkeit war. Der Sturz des Herausgebers Paul Sethe hatte zwar auch mit dem Druck Adenauers zu tun, der sich an dessen Neutralitätskurs störte, ging aber in erster Linie auf Auseinandersetzungen in der Herausgeberschaft zurück.

Deren überragende Stellung erklärt sich aus der eigenartigen Unternehmensstruktur, die hinter der FAZ steht. Zu der gehört schon, daß man nach Abnabelung von den ersten Geldgebern als Eigentümer 1959 die Fazit-Stiftung gründete und sich gegen die Einsetzung eines Chefredakteurs entschied. Statt dessen übernahmen die Herausgeber für die einzelnen Teile der Zeitung die Hauptverantwortung. Hoeres betont, daß die Uneinheitlichkeit in deren Ausrichtung – früher spottete man, die Bundesfarben fänden sich wieder in einem „schwarzen“ Politik-, einem „roten“ Kultur- und einem „goldenen“ Wirtschaftsteil – nicht auf Führungsschwäche zurückgehe. Ausschlaggebend war eher ein bestimmtes Verständnis von Liberalität, verbunden mit der Annahme, daß die Heterogenität geeignet sei, verschiedene Lesergruppen anzusprechen.

Das Kalkül ging in einem erheblichen Maß auf, denn bis zum Beginn der 1970er Jahre stieg die FAZ zur auflagenstärksten deutschen Tageszeitung auf, sieht man von der Bild-Zeitung ab. Die FAZ war für erhebliche Teile der gebildeten Bürger und die Entscheidungsträger der Wirtschaft das Leitorgan. Kein anderes Printmedium, wie man jetzt zu sagen begann, verfügte über so viele „Edelfedern“ und ein vergleichbares Korrespondentennetz, nirgends erschienen politische Analysen oder Kommentare zum Kulturgeschehen mit vergleichbarer Wirkung.

Auch das „rote Jahrzehnt“ nach der Studentenrevolte von ’68 konnte daran wenig ändern. Die Frankfurter Allgemeine trat unverdrossen für Westbindung, Verfassungsordnung, Markt und Rechtsstaat ein. Eine Linie, die nach der „Wende“ – der Bildung einer schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl – bestätigt zu werden schien. Allerdings hatte man an der Spitze der FAZ nie ein „roll back“ favorisiert und stand einer „geistig-moralischen Wende“, die Teile der Union verlangten, eher skeptisch gegenüber.

Dafür nahm man in Kauf, daß sich die Linke rasch von ihrem Schock erholte und weiter den gewohnten Einfluß auf das Meinungsklima nahm. Ein Vorgang, der sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und jener „Wende“, die zum Kollaps der DDR und der Wiedervereinigung führte, auf seltsame Weise wiederholte.

Hoeres kommentiert diese Vorgänge auch mit der Feststellung, daß es irritiere, wie schwach alle liberalen und konservativen Versuche gewesen seien, die Dominanz der Linken zu schwächen. Aber er verknüpft diese Einsicht nicht mit jener Generaltendenz der FAZ, die man auf die Formel bringen könnte: Im Zweifel gegen rechts. Daher rührte schon die Sympathie des Feuilletonchefs Karl Korn für den jungen Jürgen Habermas und dessen Antipathie gegen den jungen Armin Mohler; daher rührte die lässige Toleranz, mit der man einen Salonrevoluzzer wie Karl Heinz Bohrer oder einen „Stalinisten“ wie Eduard Beaucamp gewähren ließ; daher rührte der spöttische Ton, mit dem man die Versuche zur Sammlung der konservativen Intelligenz quittierte und die polemische Schärfe, mit der man alles für indiskutabel erklärte, was die Nouvelle Droite vortrug; daher rührte der fehlende Rückhalt für Karl Feldmeyers Forderung nach einer offensiven Deutschlandpolitik, die Wendung gegen Ernst Nolte nach dem Rückzug Joachim Fests als Herausgeber und die Bereitschaft, jede sachliche Debatte über Thilo Sarrazins Thesen im Keim zu ersticken.

Ihren Nachwuchs holen    die Frankfurter von links

Was diesen letzten Vorstoß betrifft, geht er auf das Konzept zurück, das Hoeres als „Debattenfeuilleton“ charakterisiert und in erster Linie dem Geltungsdrang von Fests Nachfolger Frank Schirrmacher zuschreibt. Damit und mit den pikanten Details zu Schirrmachers Gebaren in der Redaktion – wo man ihn hinterrücks „Nero“, „Caligula“ oder „Kindkaiser“ nannte – wird zum Schluß auch der Niedergang der FAZ in den beiden jüngsten Jahrzehnten zum Thema gemacht.

Hoeres führt selbstverständlich die Umstände an, die so oder ähnlich alle Zeitungen betreffen, vom Rückgang des Anzeigengeschäfts über die wachsende Bedeutung der neuen Medien, die fehlende Akzeptanz in der jüngeren, auf das Internet fixierten, Generation. Aber das genügt als Erklärung nicht. Obwohl Hoeres mit seinen Wertungen vorsichtig, manchmal zu vorsichtig, ist, wird doch erkennbar, daß die „Tante FAZ“ nicht nur in die Jahre gekommen ist und an altersbedingten Gebrechen leidet, sie hat auch viel von der sicheren Fühlung mit der gesellschaftlichen Atmosphäre verloren und neigt in einem irritierenden Maß dazu, gouvernemental zu werden. Der Rauswurf des Herausgebers Holger Steltzner in diesem Frühjahr ist dafür ein Indiz, aber auch die Tatsache, die Hoeres etwas süffisant anmerkt, daß nämlich die Frankfurter ihren Nachwuchs immer noch von links holten, während ihre Veteranen eine Heimat in der JUNGEN FREIHEIT fänden.

Wenn Hoeres über diese Sachverhalte nicht schweigend hinweggeht, kann man daran auch erkennen, daß sein Buch, trotz des Zugangs, den man ihm zu internen Unterlagen gewährt hat, keine der üblichen Auftragsarbeiten ist, wenn es um eine Firmengeschichte geht. Selbstverständlich gibt es Lücken und natürlich könnte man über Gewichtungen streiten. Aber das ist keine Einschränkung der Tatsache, daß der Verfasser nicht nur ein Standardwerk zum Thema vorgelegt, sondern auch einen wichtigen Aspekt der Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands erhellt hat. Wer den jämmerlichen Zustand dieses Forschungsgebietes kennt, wird zugeben, daß das viel bedeutet.

Peter Hoeres: Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ, Benevento-Verlag, Elsbethen 2019, gebunden, 600 Seiten, 28 Euro