© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Suche nach der Überfahrt
Brennpunkt Ägäis (Teil2): Die Türkei läßt der Schleuserindustrie Freiräume
Hinrich Rohbohm

Es dauert gerade einmal 45 Minuten, um mit der Fähre von der griechischen Ägäis-Insel Kos ins türkische Bodrum zu gelangen. Nahe dem von Kreuzrittern im 15. Jahrhundert errichteten Kastell legt das Boot an. Paßkontrolle, Gepäckkontrolle. Dann verlieren sich die Passagiere im Gewusel der engen Gassen, zwischen Handtaschen- und Bekleidungsläden, zwischen Bars, Restaurants und Souvenirgeschäften. Unzählige Touristen schlendern durch den Ort. Aber Migranten? 

Der erste Blick suggeriert Entwarnung. Keine neue Zuwanderungskrise. Keine Migranten, die versuchen, mit Schlauchbooten über das Meer in die Europäische Union zu gelangen. Dabei hatte Präsident Recep Tayyib Erdogan bereits damit gedroht, Migranten wieder verstärkt Richtung Europa ziehen zu lassen.

„Ich wollte eigentlich über Bodrum nach Europa gelangen, aber der Preis der Schleuser war dafür zu hoch“, hatte uns Hiob, ein Migrant aus dem Kongo, der zur Zeit im Aufnahmelager in Pili untergebracht ist, erzählt (JF 42/19). Nur wenige Kilometer trennen den türkischen Küstenort von der Insel Kos. Von der Entfernung her ist es der Ort, von dem man am schnellsten über die Ägäis nach Europa gelangt. Doch das Nadelöhr ist auch entsprechend gut bewacht. Ein Patrouillenschiff der türkischen Marine liegt im Hafen von Bodrum vor Anker. Griechische, türkische und Frontex-Einheiten halten Ausschau nach Schlauchbooten von Migranten. Lokalisiert die griechische Küstenwache ein Boot, „rettet“ sie die Migranten oder schleppt die Holz-oder Schlauchboote zur nächstgelegenen Insel. 

Schlauchboote stehen hoch im Kurs

Die machen sich jedoch zumeist erst nachts oder in den frühen Morgenstunden auf den Weg zu ihrer illegalen Überfahrt, erzählt Hiob. Er selbst war von Izmir aus nach Kos gekommen,  Schleuser hatten ihn per Mobiltelefon an Küstenabschnitte abseits der belebten Orte gelotst dann wartete er auf ihre Abfahrt, ohne das genaue Ziel vorher zu kennen. 

Kein einziger Migrant ist tagsüber in Bodrum zu sehen. Doch woher kommen dann die im Hafen von Kos angehäuften Schwimmwesten, Paddel und Schlauchbootreste? Drei Schwarze schlendern durch eine der Gassen, zwei Männer, eine Frau. Sie lachen, machen Selfies, bewegen sich wie Touristen durch die Stadt. Sie tragen keine ausgefransten, löchrigen Hosen, keine verschmutzen Hemden. Können das Migranten sein? 

Wenig überzeugt heften wir uns an ihre Fersen. Im Vorbeigehen hören wir sie in einer uns fremden Sprache miteinander sprechen. Keine US-amerikanischen Touristen, keine Europäer, so viel wird bereits klar. Unsere Aufmerksamkeit steigt. Die Gruppe geht Richtung Strand. Am Wasser angekommen bleiben sie stehen, lachen, machen Fotos voneinander. Also doch nur Touristen? 

Doch etwas stimmt nicht. Die Strandgäste ringsherum haben es sich auf Sonnenliegen bequem gemacht. Das Trio hingegen bleibt stehen, blickt über die Bucht Richtung Patrouillenschiff. Sie diskutieren. Fünf Minuten. Zehn. Immer noch macht keiner von ihnen Anstalten, eine Liege in Beschlag zu nehmen. Nach längeren angeregten Diskussionen verläßt die Gruppe den Strand. Wieder geht es durch die Stadt, wieder durch die zahlreichen Gassen. Mehrmals blicken sie sich um, bleiben stehen, so als würden sie kontrollieren, ob ihnen jemand folgt. Zunehmend bezweifeln wir, daß es nur Touristen sein können. 

Die drei gehen nun zum Hafen. An einer Segelyacht machen sie halt. Es folgt die gleiche Aktion wie am Strand. Zwei von ihnen lachen, diskutieren miteinander, fotografieren sich gegenseitig, machen Selfies, während der dritte intensiv das am Heck der Yacht befestigte motorisierte Schlauchboot inspiziert. Sie machen Fotos vom Schiff, Fotos vom Schlauchboot, diskutieren wieder. 

Dann geht es erneut durch die Stadt. Wieder durch die Gassen, wieder ständig Kontrollblicke nach hinten. Schließlich verlassen sie das Zentrum. Weiter außerhalb, etwas abseits des Touristentrubels, steuern sie ein Café an. Darin: ein gutes Dutzend Schwarzafrikaner. Man begrüßt sich. Wir blicken uns um und fühlen uns an die Szenerie des Istanbuler Stadtteils Aksaray erinnert. Jenes Ortes, wo die Schleuser ihre Geschäfte mit den Migranten tätigen. 

„Im nächsten Sommer werden viel mehr kommen“  

Es ist die gleiche Infrastrukur: Handyshops, Reisebüros und Geschäfte, in denen neben typischen Badeutensilien Schwimmwesten, Paddel und Neo-prenanzüge verkauft werden, exakt das, was wir aufgehäuft an der Kaimauer im Hafen von Kos entdecken. 

Unterdessen hat das Trio das Café wieder verlassen und steuert eine unscheinbare, etwas schäbig wirkende Pension an. Wir folgen, fragen nach einem Zimmer. Keines verfügbar, alles ausgebucht. Mit Migranten? Keine Antwort. Die ist aber auch nicht mehr erforderlich, denn wir sehen hier noch mehr Schwarzafrikaner. Andere kommen dem Äußeren nach zu urteilen aus Afghanistan oder Pakistan. In den benachbarten Gebäuden befinden sich weitere Pensionen und Cafés mit ähnlichem Publikum. Wir legen uns erneut auf die Lauer, warten. Überraschend schnell kommt das Trio wieder aus der Pension heraus. Sie tragen nun andere Hemden. Wir folgen erneut. 

Einer von ihnen telefoniert. Plötzlich bleibt die Gruppe abrupt stehen, blickt sich um, schaut in unsere Richtung. Dann trennen sie sich. Zwei gehen nun in entgegengesetzte Richtungen, einer kommt direkt auf uns zu, läuft vorbei und steuert erneut jenes Café mit den Schwarzafrikanern an, in dem das Trio kurz zuvor weilte. War die Gruppe gewarnt worden? 

Wir gehen zurück Richtung Zentrum, hören uns unter Gastronomen um. Auch hier die gleiche Bestätigung wie auf Kos. „Nach 2015 ist es deutlich ruhiger geworden. Es waren kaum noch Migranten da“, schildert ein Restaurantbesitzer uns die Situation der vergangenen Jahre. Im Sommer habe sich das spürbar geändert. Er ist sich bereits sicher: „Im nächsten Sommer werden besonders viele Migranten kommen.“