© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Linksrutsch erwartet
Schweiz: Die Eidgenossen dürfen ein neues Parlament wählen. Die große Frage dabei: Spült das Klima-Thema auch hier die Grünen nach oben?
Paul Leonhard

Die knappe bürgerliche Mehrheit im Schweizer Nationalrat könnte nach dem 20. Oktober Geschichte sein. Glaubt man dem aktellen Wahlbarometer legt das rot-grüne Lager bei der Parlamentswahl am Sonntag um 3,3 Prozentpunkte zu. Ursache dafür ist die von Grünen und Grünliberalen geschürte Angst vor dem Klimawandel.

Stabil 38 Prozent der Wähler benennen seit Monaten den Klimawandel als ihre größte Sorge. Beide Parteien werden daher, wenn die Wähler tatsächlich an der Urne so abstimmen, wie es Umfragen prophezeien, zusammen 17,5 Prozent der Stimmen bekommen. 

So viel Zustimmung hatten die Klima- und Umweltschützer noch nie: Die Grünen würden auf 10,6 Prozent gegenüber 9,6 Prozent 2007 klettern, die Grünliberalen auf 6,9 gegenüber 5,4 Prozent im Jahr 2011. Der Sozialdemokratischen Partei (SP) werden stabile Werte um die 18,7 Prozent prognostiziert.

Das zu erwartende Minus der rechts der Mitte stehenden Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) von zusammen 2,3 Prozentpunkten werten Schweizer Medien wie swissinfo.ch bereits als „waschechten Linksrutsch“.Auch angesichts der für die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) und Christdemokratische Volkspartei (CVP) prognostizierten deutlichen und für die EVP leichten Verluste deute alles darauf hin, daß die Erosion der politischen Mitte im Schweizer Parteienspektrum, die sich im Jahr 2011 kurzzeitig ins Gegenteil verkehrte, offenbar weitergehe.

Die rechtsbürgerliche SVP wird auch nach dem 20. Oktober mit Abstand die stärkste Partei bleiben. Prognosen prophezeien ihr 26,5 Prozent, 2015 erreichte sie 29,4 Prozent. Allerdings könnte das nicht reichen, um weiterhin zusammen mit der FDP die Mehrheit der Nationalräte, der großen Kammer des Schweizer Parlamentes, zu stellen.

Schweizer wurmen die hohen Gesundheitskosten

Die Grünen, die eventuell auch von Verlusten der FDP profitieren könnten, zeigen sich selbst zurückhaltend: „Welche Schlüsse wir aus dem Wahlergebnis für die Zusammensetzung des Bundesrats ziehen können, wird sich am Wahlabend zeigen“, zitiert das Nachrichtenportal Watson die Grünen-Vorsitzende Regula Rytz. 

Interessant an der Schweizer Klimaschutzdiskussion ist, daß breite Bevölkerungskreise inzwischen unter Verweis auf die hohe CO2-Emission des aus Gas und Kohle erzeugten Stroms das per Volksentscheid beschlossene Ende der Kernenergienutzung in Frage stellen und den Bau sicherer Kernkraftwerke fordern, um die Energiesicherheit in der Eidgenossenschaft zu sichern: „Windräder, wo es nicht windet, Solarpanels, wo die Sonne zu wenig scheint oder neue Starkstromleitungen quer durch Europa, um Strom zu importieren aus Ländern, welche schon für sich selbst zu wenig Strom haben, bringen wenig“, ist eine Argumentation, wie sie häufig in den Internet-Kommentaren der Schweizer Tageszeitungen zu lesen ist.

Im Sorgen-Ranking der Eidgenossen liegen die Gesundheitskosten (70 Prozent) und die Altersrenten (62 Prozent) als drängendste Probleme aber immer noch weit vor dem Klimawandel und der Umweltzerstörung (52 Prozent). Es folgen das Verhältnis zur Europäischen  Union (46 Prozent), Migration und Zuwanderung (39 Prozent ) und Asylwesen (33 Prozent).

Beim Überthema Ökologie ist die SVP die einzige Partei, die „eine pointierte Gegenposition einnimmt“, gibt die Politologin Martina Mousson zu bedenken: „Es ist ein Thema, bei dem man sich über die Parteigrenzen hinweg einig ist. Oder zumindest Einigkeit zur Schau stellt. Denn daran will sich niemand die Finger verbrennen.“ 

Sollte der Grün- und Linksrutsch weniger ausgeprägt als erwartet ausfallen, so Michael Hermann, Chef der Politforschungsstelle Sotomo, könnte „der Klimaaktivismus schnell wieder zusammenfallen“.