© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Reinhard Müller hat in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf das gewandelte Verständnis der deutschen Schuld seit dem Beginn der Neuen Ostpolitik hingewiesen, die Ende der 1960er Jahre durch die sozialliberale Koalition eingeleitet wurde. Er zitierte in dem Zusammenhang Willy Brandt, der anläßlich des Warschauer Vertrages und der faktischen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ausdrücklich erklärt hatte: „Großes Leid traf auch unser Volk, vor allem unsere ostdeutschen Landsleute.“ Man lehne „Legenden ab, deutsche wie polnische. Die Geschichte des deutschen Ostens läßt sich nicht willkürlich umschreiben.“ Und: „Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.“ Das in Erinnerung zu rufen, ist für sich genommen schon bemerkenswert. Aber aufschlußreich wirkt vor allem der Kontrast zu den pauschalen Schuldbekenntnissen heutiger Politiker, insonderheit des Bundespräsidenten, die Müller – wenn auch sehr zaghaft – kritisiert; die Überschrift „Wird Deutschlands Schuld immer größer“ versah die FAZ sicherheitshalber mit einem Fragezeichen. Und was man vermißt, ist eine Analyse des Vorgangs, der in dem letzten Halbjahrhundert dazu geführt hat, daß der von Brandt gewünschte „Schlußstrich“ eben nicht gezogen wurde. Stattdessen wurde die Geschichte des alten Ostdeutschland samt der Vertreibung systematisch aus dem Kollektivgedächtnis getilgt und ein Geschichtsbild verankert, das eine merkwürdige „Verbösung“ (Konrad Lorenz) alles Früheren und aller Früheren bestimmt. Einmal abgesehen von dem unerträglichen Hochmut, der sich hinter den damit verbundenen Demutsgesten verbirgt, wird man vor allem festhalten müssen, daß so im nachhinein die Kritik der „Entspannungspolitik“ gerechtfertigt wird, die immer vor der Annahme warnte, daß sich moralische Vorleistungen im diplomatischen Verkehr auszahlten oder auch nur folgenlos blieben.

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Fortschritt, protestantisch:

1900 – Bund von Thron und Altar; 1930 – Bund von Nation und Altar; 1970 – Bund von Progress und Altar; 2019 – Bund von Antifa und Altar.

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Die kleine, aber feine Ausstellung, die Schloß Gottorp (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schleswig) zur Kunst in der Zeit der Weimarer Republik zeigt, wirkt weniger durch Massierung als durch Auswahl. Besonders eindrucksvoll sind die Bilder von Käthe Kollwitz zum Hunger, die von Ernst Barlach zur Prostitution. Man vermeidet zwar die Einordnung in den Kontext von Diktatfrieden, Blockade und Reparation, aber der Betrachter nimmt eine bedrückende Vorstellung von der Situation der Menschen im Deutschland der Nachkriegszeit mit.

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Wenn in Zukunft wieder jemand Hate Speech, Spaltung und Verrohung der Umgangsformen bejammert, sollte ein Hinweis genügen: „Im Deutschen Bundestag und in den Landtagen sitzt der politische Arm des Rechtsterrorismus. Und das ist die AfD.“ (Michael Roth, SPD, Staatsminister im Auswärtigen Amt)

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Das Duell hat eine lange Geschichte. Der Zweikampf zwischen David und Goliath gehört an den Anfang wie der zwischen Achill und Hektor. Das Duell konnte Teil einer Kriegshandlung sein oder eine Schlachtentscheidung ersetzen, aber vor allem war es mit der Idee verknüpft, daß der Waffengang zur Verteidigung der persönlichen Ehre diente. In dieser Variante hielt es besonders zäh am Leben fest, trotz der seit dem 18. Jahrhundert erlassenen Verbote. In Frankreich duellierten sich bevorzugt Abgeordnete und Journalisten noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Dagegen scheint diese Tradition in Großbritannien schon Mitte des 19. Jahrhunderts gebrochen worden zu sein. Das hatte seinen Grund in einer gerade von konservativen Kreisen der Gesellschaft getragenen Initiative, der sich selbst der Herzog von Wellington anschloß. Dementsprechend war allerdings auch die Stoßrichtung der Argumentation für ein Ende des Duellierens: die Volksklassen hatten sich seiner bemächtigt, und zuletzt waren sogar Leineweber mit geladener Pistole aufeinander losgegangen, weil sich einer beleidigt gefühlt sah.

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Die These des Anthropologen Richard Wrangham, daß unsere Aggressivität im Lauf der Geschichte durch Androhung wie Vollzug der Todesstrafe erfolgreich reduziert wurde, konnte ein gewisses Aufsehen, aber keinen Skandal erregen. Das hat auch damit zu tun, daß Wrangham die weitere Anwendung oder Wiedereinführung ablehnt. Bleibt die Frage, ob er damit seiner wissenschaftlichen Einsicht oder den Regeln politischer Korrektheit folgt. Wahrscheinlich letzteren. Spätestens seit der „Jenaer Erklärung“ über die Inexistenz menschlicher Rassen ist klar geworden, daß auch die sich so viel auf ihre Empirie und Methodensicherheit einbildende Naturwissenschaft ganz und gar nicht frei ist von ideologischen Vorgaben.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 1. November in der JF-Ausgabe 45/19.