© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Im Namen der Rechtssicherheit
Zweiter Teil der JF-Serie über Gustav Radbruch und Carl Schmitt: Positivismus contra Dezisionismus?
Björn Schumacher

Carl Schmitts spöttisches Diktum vom „Homo homini Radbruch“ hat einen historischen Vorläufer: „Homo homini lupus“ (Der Mensch ist des Menschen Wolf), eine Sentenz des neuzeitlichen Staatstheoretikers Thomas Hobbes (1588–1679), auf den sich Schmitt vor 1933 maßgebend stützt: Hobbes’ Kulturpessimismus hatte die Theorie eines Staats- oder Gesellschaftsvertrags hervorgebracht: Egoistische Individuen („Wölfe“) verständigen sich auf die Gründung eines Staats mit Gewaltmonopol, versprechen einander Rechtsgehorsam und kriegen dafür den größtmöglichen Schutz von Leib, Leben und Eigentum. 

„Schutz gegen Gehorsam“ ist das alles überwölbende Leitmotiv. Die Frage nach dem inhaltlich richtigen Recht tritt zurück. Folglich skizziert das Hobbes-Zitat „Auctoritas, non veritas facet legem“ Schmitts „dezisionistische“ Phase – beginnend etwa mit dessen Studie „Politische Theologie“ (1922). In der fundamentalen „Verfassungslehre“ von 1928 leitet Schmitt daraus Folgerungen für die Rechtsgeltung ab: „Die Verfassung gilt kraft des existierenden Willens desjenigen, der sie gibt. (...) Jedes Gesetz als normative Regelung, auch das Verfassungsgesetz, bedarf zu seiner Gültigkeit im letzten Grunde einer ihm vorgehenden politischen Entscheidung, die von einer politischen Macht oder Autorität getroffen wird. Jede existierende politische Einheit hat ihren Wert oder ihre ‘Existenzberechtigung’ nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert.“

„Das Volk, die Nation, bleibt der Urgrund alles politischen Geschehens“ (Carl Schmitt)

Eindrucksvolle Wendungen, gewiß, die aber zwei elementare Fragen ausklammern. Die erste betrifft den rechts- und staatsethischen Geltungsgrund, also die Legitimität staatlicher Gesetze: Warum gilt eine Verfassung „kraft des existierenden Willens desjenigen, der sie gibt?“ Hobbes hätte hier geantwortet: aufgrund des Gesellschaftsvertrags. Schmitt blendet diesen Kontext aus. Statt dessen bezieht er sich auf die „Reine Rechtslehre“ seines staatsrechtlichen und -theoretischen Widerparts Hans Kelsen (1881–1973). Dessen „Grundnorm“ will er in den ranghöchsten Normen einer Verfassung aufgespürt haben. Zu Unrecht; denn Kelsens Grundnorm gehört weder der verfassungsrechtlichen noch einer höherrangigen natur- oder vernunftrechtlichen Ebene an. Sie will keine Pflicht und kein Sollen im Sinne moralischer oder rechtlicher Verbindlichkeit begründen, sondern fungiert als (fiktive) logische Voraussetzung bzw. „methodologisches Apriori“ der Rechtserkenntnis.

Die zweite spannende Frage rankt sich um den von Carl Schmitt hervorgehobenen Begriff der „politischen Größe“. Möchte er hier eine Brücke zu Kelsen schlagen, der ein nüchterner Positivist par excellence war? War Schmitt unter dem Etikett des Dezisionismus etwa auch ein Positivist? Konnte für ihn vor 1933 jeder beliebige Inhalt in den Rang geltenden Rechts aufsteigen? Mit guten Gründen bezweifelt das der Rechtsphilosoph Ralf Dreier: „Schmitts Interesse gilt (...) der politischen Einheit, die das Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt ist. Diese Einheit ist, nach dem Wegfall der dynastischen Legitimität, das Volk oder die Nation (als politisch geeintes Volk). Beide Begriffe sind bei Schmitt wertbesetzt.“ Idealtypisch entfaltet sich diese Wertbesetzung in der „Verfassungslehre“ (1928): „Das Volk, die Nation, bleibt der Urgrund alles politischen Geschehens, die Quelle aller Kraft, die sich in immer neuen Formen äußert, immer neue Formen und Organisationen aus sich herausstellt, selber jedoch niemals ihre politische Existenz einer endgültigen Formierung unter-ordnet.“

Weitere Aktivitäten Schmitts in der zuletzt krisengeschüttelten Weimarer Republik, etwa sein Einsatz für eine auf plebiszitäre Legitimität gestützte Präsidialdemokratie, mögen hier auf sich beruhen. Gradmesser für den Vergleich mit Gustav Radbruch ist die Grundnormtheorie. Allerdings hat Schmitt nie eine Grundnorm formuliert. Lassen sich seine Bemerkungen zur Geltung der Verfassung in Verbindung mit seiner nationalen Emphase dennoch zu einer moralischen (naturrechtlichen), staat-liche Gesetze legitimierenden Grundnorm verdichten?

Kurze Antwort: Ja, das geht. Ausgangspunkt ist die Urfassung einer solchen Grundnorm im Neuen Testament: „Ein jeder sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ (Römerbrief des Paulus, 13,1). Ergänzt man die Urfassung um Hobbes’ Prinzip „Schutz gegen Gehorsam“ sowie den Schmitt-spezifischen Mythos von Volk und Nation, schält sich eine komplexe Grundnorm heraus. Sie lautet sinngemäß wie folgt: Handle gemäß der Verfassung und den mit ihr in Einklang stehenden Gesetzen, wenn die Verfassung a) dem Prinzip „Schutz gegen Gehorsam“ genügt, also ein Sicherheit stiftendes staatliches Gewaltmonopol enthält, und b) den überragenden Wert des politisch geeinten Volks bei dessen gemeinschaftlicher Willensbildung beachtet. Dieser moralische Imperativ läßt sich als Grundnormtyp „Hobbes-Schmitt“ klassifizieren.

Nach 1932 wendet sich Carl Schmitt abrupt vom Dezisionismus ab. Er wirft ihm vor, „das in jeder großen politischen Bewegung enthaltene ruhende Sein zu verfehlen“ (Neuausgabe „Politische Theologie, 1934). Schmitt bekennt sich nunmehr zum „konkreten Ordnungsdenken“, als dessen philosophischen Ahnherrn er Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) vorstellt.

„Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist“ (Gustav Radbruch)

Wie aber stand Gustav Radbruch zur „Grundnorm“? Antwort gibt die dritte Auflage seiner „Rechtsphilosophie“ (1932). Mit der an Schmitt erinnernden Wendung „Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist“ stößt Radbruch das Tor zu einer rechtsphilosophischen Geltungslehre auf. Dem Einwand, er betreibe Methodensynkretismus und leite ein normatives Sollen aus einem faktischen Sein ab, begegnet Radbruch mit der Unterscheidung von Geltungsbedingung und Geltungsgrund: „Das Recht gilt nicht, weil es sich wirksam durchzusetzen vermag, sondern es gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen ver-mag, weil es nur dann Rechtssicherheit zu gewähren vermag.“

Diese Geltungslehre hat einen neukantianischen Hintergrund, dessen Zentrum die sogenannte Rechtsidee bildet. Radbruch bestimmt sie durch die Trias der Rechtswerte Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit. Weil seine 1932 durch formale Gleichheit geprägte Gerechtigkeit keine konkreten Verhaltensableitungen erlaubt und die Gesamtheit aller Rechtszwecke „relativistischer Selbstbescheidung“ unter-liegt („Werte sind nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig“), rückt die mit Hobbes’ Gewaltmonopol korrespondierende, „allgemeingültige“ Rechtssicherheit in den Vordergrund. Die dazu gehörende Geltungslehre fordert vom Richter absoluten Gesetzesgehorsam, wenn und soweit die anzuwendenden Normen ein hinreichendes Maß an Rechtssicherheit garantieren.

Eine vielzitierte Passage zeigt Radbruchs sprachliche Kraft: „Wie ungerecht immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge – es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit. Der Richter, indem er sich dem Gesetze ohne Rücksicht dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür dienstbar. Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt.“

Juristischer Positivismus ist dieses richterliche „sacrificium intellectus“ nach der herrschenden Neutralitäts- beziehungsweise „Trennungsthese“ dennoch nicht; denn Radbruch vollzieht nicht die begriffliche Trennung von Recht und Moral oder Recht und Wert. Der Nachweis von Rechtssicherheit als vorrangigem Wert der Rechtsidee bleibt notwendige Bedingung der Geltung staatlicher Gesetze. Radbruch läßt sich 1932 als Vertreter einer nur vordergründig positivistisch inspirierten „Verbindungsthese“ einordnen. Der dazu passende Grundnormtyp sei „Hobbes-Radbruch“ genannt.






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Den dritten Teil seiner Serie lesen Sie in der kommenden JF-Ausgabe 44/19.