© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Schummeln erlaubt
TU Dresden: Ein Professor gestattet Spickzettel – und macht daraus einen Wettbewerb
Paul Leonhard

Keinen Spickzettel zu benutzen ist für viele Studenten und Schüler eine Frage der Ehre. Einen solchen in einer Klausur dabei zu haben, für andere eine Form der Sicherheit – ihn hervorzuholen ein Nervenkitzel. Wer früher mit seinem Latein am Ende war, hat vielleicht eigens hergestellte Schummelheftchen benutzt. Es soll Schüler gegeben haben, die mehr übersetzt haben, als der Text vorsah. Spick- und Merkzettel gibt es auch im Alltag, öffentliche für den Einkauf beispielsweise, und hochpolitische, die Systeme zum Einsturz bringen können. Das Gekritzel auf dem Notizzettel des SED-Spitzenfunktionärs Günter Schabowski hat am 9. November vor 30 Jahren dafür gesorgt, daß eine Mauer einfiel, die nach dem Willen der Kommunisten noch hundert und mehr Jahre stehen sollte.

Spickzettel können also gefährlich sein, wenn der Schreiber sein eigenes Gekritzel nicht mehr entziffern kann, wenn er Wichtiges nicht notiert hat oder sich beim verbotenen Spicken erwischen läßt. Im letzteren Fall ist Schluß mit lustig: Wird die Nutzung von Spickzetteln entdeckt, führt das nach deutschem Schul- und Prüfungsrecht zur Aberkennung der erbrachten Prüfungsleistung.

Aber es gibt auch Ausnahmen. Professor Gerald Gerlach, Direktor des Instituts für Festkörperelektronik an der TU Dresden, läßt seine Studenten seit 20 Jahren ganz offiziell einen Spickzettel in Klausuren benutzen und hat diesen damit aus dem Verborgenen ins Licht der Öffentlichkeit geholt. Denn Gerlach, der freimütig einräumt, früher selbst Spickzettel vorbereitet zu haben, aber offenläßt, ob er sie jemals benutzt hat (jedenfalls sei er nie dabei erwischt worden), sammelt diese inzwischen als „von der Kunstwissenschaft bisher noch nicht beachtete Gebrauchsgrafik“.

Hochkomplexes Zeichenarrangement

Sogar eine Ausstellung samt Katalog hat er ihnen gewidmet. Unter dem Titel „Spicken erlaubt! Einfach schöne Spickzettel“ zeigt sie knapp vier Dutzend beidseitig vollgeschriebene und nach Kategorien geordnete Blätter im A4-Format: bunte, gut sortierte, formelbetonte, dichtbepackte, unlesbare, minimalistische, wortgewaltige, elegante, kaligraphische, aber auch die sich jeder Form entziehenden. Daneben „die aus dem Rechner“, also ausgedruckte, und „die für den Wettbewerb“.

Denn einen solchen gibt es. Gerlach bittet seine Studenten seit einigen Jahren, mit den Prüfungszetteln auch die Spicker abzugeben. Eine Jury kürt alljährlich jeweils den fachlich-inhaltlich besten sowie den künstlerisch überzeugendsten. In diesem Jahr ging sogar ein Sonderpreis für den „spitzesten Bleistift“ an eine Studentin. Als Preis lockt das Geld für einen Kasten Bier. Generationen von Studenten haben beispielsweise in den Fächern „Mikrotechnik“ und „Einführung in die Sensorik“ bewiesen, daß sie mittels winziger Schrift, Abkürzungen, Grafiken und Eselsbrücken auf stark begrenztem Raum komplexe Inhalte auf ein Minimum verdichten können. Die Anfertigung derartiger „Meisterwerke“ ist mitunter die beste Prüfungsvorbereitung, weil der Student sich so noch einmal durch den Zettelwust an Vorlesungsmitschriften, Klausurvorbereitungen und Formelsammlungen kämpft, um letztlich zu entscheiden, ob er Übungsaufgaben mit komplettem Lösungsweg oder nur grundlegende Formeln notiert. Der Lehrstoff wird also gründlich wiederholt. 

In einer Laudatio wird der Spickzettel im Katalog als ein „personengebundener Nicht-Wissenspeicher“ beschrieben. Der ideale Spickzettel sei ein gleichermaßen hochkomplexes wie kreatives Zeichenarrangement, das zu dem Zweck erstellt wird, Komplexität zu reduzieren und Kompliziertes zu vereinfachen und das bisher nicht Gemerkte oder Verstandene so nicht nur auf Papier bringt, sondern zugleich im Bewußtsein verankert. 

Die Kraftkompensationsmethode beispielsweise oder die Spannungs-Dehnungs-Beziehung. Spickzettel als „personenbezogene individuelle Denkstrukturen repräsentierende Dokumente“ helfen auch Professoren, zu verstehen, wie Studenten die gelehrten Sachverhalte und Inhalte begreifen. Allerdings nur, wenn diese die Spicker zu Gesicht bekommen. Für Gerlach und seine Mitarbeiter ist jedenfalls immer wieder „überraschend, wie sauber und filigran die Schrift sein kann und wieviel Stoff auf einem A4-Blatt untergebracht werden kann“.

Spicken erlaubt! Einfach schöne Spickzettel: SLUB Dresden, Bereichsbibliothek, Zellescher Weg 17, Öffnungszeiten Mo. – Fr. 9 bis 20 Uhr und Sa. 9 bis 18 Uhr.