© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Die neue Metaphysik
Wenn Minderheiteninteressen ihre Maßstäbe verlieren: Der britische Publizist Douglas Murray beleuchtet Ursprünge und Stoßrichtungen einer sich zunehmend radikalisierenden Minoritätenmoral, die zur Umerziehung unserer Gesellschaft angetreten ist und das Klima zunehmend polarisiert
Ludwig Witzani

Am 10. Juni 2001 verkündete der  SPD-Politiker Klaus Wowereit  vor laufenden Kameras: „Ich bin schwul, und das ist auch gut so.“ Das war damals ein mutiger Schritt, mutiger als das Verhalten von Kollegen wie Ole von Beust und anderen, die sich wohlweislich bedeckt hielten. Dreizehn Jahre später schlug Tim Cook, der Chef von Apple, schon ganz andere Töne an, als er öffentlich jubelte: „Ich bin stolz, schwul zu sein, und ich betrachte meine Homosexualität als eines der größten Geschenke, die Gott mir gegeben hat.“ Der gesamtgesellschaftliche Umbruch, den diese Zitate schlaglichtartig beleuchten, ist das Thema, das Douglas Murray in seinem Buch „Wahnsinn der Massen“ behandelt.  

Douglas Murray, der Autor des vielbeachteten migrationskritischen Bestsellers „Der Selbstmord Europas“ (JF 24/18), wäre aber nicht der fundierte Autor, als den man ihn kennt, wenn er sich in dem vorliegenden Buch allein auf die veränderte Wahrnehmung der Homosexualität beschränken würde. Sein Ansatz zielt auf eine viel umfassendere Verständnisebene. Auf der Grundlage von vier ausführlichen Kapiteln über Homosexualität, Feminismus, Rassismus und die Trans-Problematik enthüllt  der Autor Schritt für Schritt die bizarre Entstehungsgeschichte einer „neuen Metaphysik“, die die Postmoderne immer vollständiger umgreift und innerhalb derer Äußerungen wie die von Tim Cook nichts Besonderes mehr sind. 

Für Douglas Murray, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt, kann der Durchbruch der neuen Metaphysik allerdings nur im Hinblick auf ihre Geschichte begriffen werden. Denn an ihren Ursprüngen, mögen sie antihomophob, antirassistisch, feministisch oder um Probleme der Geschlechteridentität gruppiert gewesen sein, handelte es sich um durchweg legitime Kampagnen gegen gesellschaftliche Diskriminierung. Dann aber, im Moment ihres gesellschaftlichen Durchbruchs, haben die Protagonisten der Minderheiteninteressen ihre Maßstäbe verloren und sind, so der Autor, „gegen die Leitplanke gekracht“. 

Anstatt sich mit dem Ende der Diskriminierung und dem Vollzug der sozialen Integration in eine wie immer auch geartete „Normalität“ zufriedenzugeben, kämpften sie weiter wie ein „heiliger Georg im Ruhestand“, obwohl der Drachen längst erschlagen war. Aber sie blieben erfolgreich, erstens, weil sie immer neue Drachen herbeiphantasierten, die sie der Reihe nach öffentlich erschlagen konnten und zweitens, weil sie konsequent auf zwei Strategien setzten: auf „Identitätspolitik“ und „Intersektonialität“. „Identitätspolitik“ bedeutet, daß Angehörige von Minderheiten ihre gesamte Existenz allein unter dem Blickwinkel ihrer Minoritätenexistenz betrachten und politisieren, was ihren Anliegen eine enorme Durchschlagkraft verschafft. Das Konzept der „Intersektionalität“ beinhaltet die These, daß alle gesellschaftlichen Minderheiten (Schwule, Farbige, Frauen, Trans, aber auch Naturschützer und die Angehörigen ehemaliger Kolonialvölker) der gleichen „Matrix der Unterdrückung“ unterliegen und daß alle sozialen Subsysteme aus dieser Perspektive durchgescannt und kritisiert werden müssen. 

Die dekonstruktivistische Totalkritik der bestehenden Verhältnisse füllte bald nicht nur ganze Bibliotheken, sondern veränderte auch die Perspektive  der Kritiker: Aus der Forderung nach Gleichberechtigung erwuchs der Anspruch auf Bevorzugung und das Verlangen nach Rache an den ehemals Privilegierten. Vertrat der US-Bürgerrechtler Martin Luther King in den sechziger Jahren noch die Idee eines „farbenblinden Amerikas“, in dem nicht die Hautfarbe, sondern der Charakter zählen sollte, sehen seine radikalen Nachfolger im Konzept eines farbenblinden Amerikas selbst einen verkappten Rassismus. 

Kämpften die traditionellen Feministen noch für politische und rechtliche Gleichstellung der Frau, huldigen radikale Feministen unserer Tage einem veritablen Männerhaß und verkünden: „Männer sind Müll.“ Während  die gesamte Minderheitenforschung an den US-Universitäten die Minoritäten positiv darstellt, wird in der sogenannten „Weißseinsforschung“ (critical whiteness) versucht, den Weißen nahezubringen, wie sehr sie durch ihr bloßes Dasein (und ihrer Vorfahren) Schuld auf sich geladen haben. 

Noch bedenklicher als diese Neuauflage von Rassismus und Sexismus unter umgekehrten Vorzeichen erscheint dem Autor die völlige Emanzipation der radikalen Minderheitsprotagonisten von den Standards traditioneller Wissenschaftlichkeit. Viel lieber bedient man sich aus einem Sammelsurium grotesker Theorien, die eine neomarxistisch dominierte Sozialwissenschaft wie am Fließband produziert. Während etwa die gut belegten Forschungsergebnisse zu Populationsgenetik und IQ-Verteilung tabuisiert werden, verkündet man in aller Ernsthaftigkeit die These von den 50 oder 60 Geschlechtern. 

All das ist erstaunlich genug. Noch erstaunlicher aber ist der Umstand, daß dergleichen Esoterik nicht Esoterik blieb, sondern vom Campus auf die Gesellschaft übergriff. Dieser Ausbruch aus der Esoterik in den Mainstream ist ohne den Siegeszug des Internets nicht zu verstehen. Möglicherweise würde heute kein Hahn nach radikalen Feministen oder Antirassisten krähen, hätte ihnen das Internet nicht hinreichend Raum geboten, den gesamten Cyberspace mit ihren Inhalten trommelfeuerartig zu traktieren – und jeden Abweichler mit Existenzvernichtungskampagnen zu überziehen.  

Die linksaristokratischen Herren von Google, Twitter und Facebook machen sich zwar nicht jeden Unsinn radikaler Minoritätenkampagnen zu eigen, in der Tendenz aber beeinflussen sie durch ihre Forenpolitik und eine selektive Such- und Löschpraxis den öffentlichen Raum in Richtung auf eine diffuse linke Diversität. Es ist deswegen nicht erstaunlich, daß die Einstellungs- und Compliance-Praxis großer Firmen ebenso wie Vorgaben im Bildungssystem und in den Massenmedien immer stärker  Minderheitenpositionen berücksichtigen – selbst wenn sie radikal, konfrontativ und durch und durch unwissenschaftlich daherkommen.  

Am Ende seiner Tour d’horizon durch die Untiefen der neuen Metaphysik fällt Murray ein vernichtendes Urteil. Die  Aktivisten der neuen Metaphysik zerstören funktionierende Strukturen und Abläufe, ohne wirkliche Lösungen anzubieten, was der Autor anhand erschütternder Fallstudien zur Geschlechtsumwandlung belegt. Sie begreifen das von ihnen erzeugte höhere Streßniveau als Etappe auf dem Weg zu einer besseren Zukunft und denunzieren die bestehende Gesellschaft trotz ihrer extrem liberalen Minderheitenpolitik als repressiv und kryptofaschistisch. Insofern kann der „Wahnsinn der Massen“, von dem der Autor im Buchtitel spricht, wie ein Menetekel verstanden werden, als das drohende Endprodukt einer Umerziehung, der die Mehrheitsgesellschaft durch außer Rand und Band geratene Minderheiten unterzogen wird.   

Douglas Murrays Essay über die neue Metaphysik ist in seiner Faktendichte und analytischen Schärfe bestürzend und erhellend zugleich. In den Metaphysiken träumen die Völker, hat der rumänische Religionsphilosoph Mircea Eliade geschrieben. Aber nicht jeder Traum geht gut aus, möchte man hinzufügen. Mitunter verwandelt er sich auch in einen Albtraum, der die Völker in den Abgrund reißt. Daß die postmoderne Gesellschaft rechtzeitig erwacht und die Adepten der neuen Metaphysik als Scharlatane entlarvt, dazu leistet dieses Buch einen ganz entscheidenden Beitrag. 

Douglas Murray: Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. FinanzbuchVerlag, München 2019, gebunden, 352 Seiten, 24,99 Euro