© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Ich und die Geschichte
Johannes Willms hat eine gelungene Biographie über Frankreichs General und Staatsmann Charles de Gaulle und sein Jahrhundert vorgelegt
Jürgen Liminski

Die Sehnsucht nach Größe ist ungebrochen. Frankreich hätte gern wieder einen General de Gaulle, einen jener Staatsmänner, die ein ganzes Jahrhundert zu prägen vermögen. In der Tat, die Wiederaufrichtung des geschlagenen Landes nach 1945, die Gründung der Fünften Republik und das Ende der Parteienstreitereien, die Loslösung alter Kolonien und die Beendigung des Algerienkrieges, die Aussöhnung mit Deutschland, die politische Spitzenstellung im UN-Sicherheitsrat – all dies sind  bleibende Verdienste des Generals und Politikers Charles de Gaulle. 

Und es gab auch schon eine ganze Reihe von Biographien über den Vater der Fünften Republik, den Aussöhner und – in Frankreich darf man das sagen – den Führer der Grande Nation. Man denke etwa an das Monumentalwerk von Peter Schunck (Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, 1998) oder an Alain Peyrefitte (Das war de Gaulle, 1994) oder auch die Bücher des ewigen Beobachters Ernst Weisenfeld (zum Beispiel Charles de Gaulle – der Magier im Elysee, 1990), um nur diese paar zu nennen. Und fast ein halbes Jahrhundert nach Rücktritt und Tod des Generals ist der Glanz noch nicht verblaßt, die Aureole aber doch ein gutes Stück matter. 

Da paßt es, daß in der Umbruchsituation, in der sich Frankreich und Europa heute befinden, ein neuer, eher nüchterner Blick auf das Leben und Wirken dieses Mannes vorgelegt wird. Der Journalist Johannes Willms hat es unternommen, auf 640 Seiten ein Porträt des Generals und seines Jahrhunderts zu zeichnen und, das sei vorweg gesagt, es ist ihm gelungen.

Dazu gehört auch die emotionslose, mit vielen Quellenangaben abgestützte Erzählung vom Abgang des Generals. Es ist eine Seltenheit in Geschichte und Politik, wenn große Persönlichkeiten ohne Streit und Querelen abdanken und in den Schatten der Aktualität treten können. Keiner der Kanzler im Nachkriegsdeutschland verließ die politische Bühne ohne gewisse, oft selbstinszenierte Dramaturgie, auch de Gaulles deutsches Pendant, Konrad Adenauer, nicht. Adenauer wollte Erhard als Nachfolger verhindern. Es gelang ihm ebensowenig, wie es de Gaulle gelang, Pompidous Nachfolge zu verzögern oder gar zu verhindern. Aber im Unterschied zu anderen Persönlichkeiten sah de Gaulle das Ende und zog die Konsequenz, indem er es auch gestaltete, durch ein Referendum begründete und auf den Tag genau bestimmte. 

Und ebenfalls im Unterschied zu Politikern vor allem nach ihm in Frankreich und Europa, auch im heutigen Europa, sah er jenseits von sich selbst als Leitmotiv das Interesse seines Vaterlandes. Am Tag des Rücktritts sagte er seinem Adjutanten François Flohic: „Im Grunde bin ich nicht unzufrieden, daß es so zu Ende geht, denn welche Aussichten hatte ich noch? Schwierigkeiten, die die Persönlichkeit nur beeinträchtigen konnten, die die Geschichte aus mir gemacht hat, und die mich ohne Nutzen für Frankreich verbraucht hätten. Ich habe dem Land eine wichtige Reform vorgeschlagen, die für die Zukunft von großer Bedeutung war; es hat sie abgelehnt, ich aber setze mich vor der Geschichte keinerlei Tadel aus.“ 

In solchen Sätzen klingt natürlich nicht nur eine gewisse Idee von Frankreich und seiner geschichtlichen Größe, sondern auch Enttäuschung über die Franzosen mit nach dem Motto: Die Geschichte wird über das Volk urteilen, ich habe getan, was ich konnte. Und darin schwingt nicht nur die Einsamkeit der Macht monarchisch regierender Persönlichkeiten mit, sondern auch ein Herabschauen auf den Souverän der Demokratie, das (Wahl-)Volk und die Demokratie selbst. 

De Gaulle hielt es sogar für ein Versäumnis seines Lebens, nicht die Monarchie wieder eingeführt zu haben, weil ihm dafür, so beschreibt Willms geradezu lapidar diese eigentlich systemstürzende Idee, „kein geeignetes Mitglied der Maison de France zur Verfügung gestanden“ hatte. Da stand sich de Gaulle wohl selbst im Weg. Auch nach seinem Rücktritt lebte er „im Gefühl einer sich selbst gewissen historischen Einzigartigkeit“. Wieder zitiert Willms überhebliche, aber treffende Sätze: „Tatsächlich war ich für zehn Jahre ein Monarch. Es gab nur mich, der sich auf eine französische Politik verstand. Davon abgesehen im Ausland, in Europa, welches sind die Länder, die eine Politik haben? Die Engländer haben keine, die Deutschen noch viel weniger, von den Italienern will ich gar nicht reden.“

So mag auch der heutige Nachfolger im Amt, Emmanuel Macron, denken. Auch er hält sich für historisch einzigartig, für den politischen Ur-Enkel de Gaulles, ausgestattet mit demselben Sinn für Dramaturgie, allerdings ohne die Entscheidungskraft und Weitsicht des Generals, auch ohne die strategische Analysekraft und vor allem ohne die persönliche Autonomie. Die Größe einer Nation ist nicht nur eine Frage der Sehnsucht und der Umstände. Es ist auch eine Frage von Persönlichkeiten, von ihrer Herkunft und Erfahrung, von ihrem Sinn für Volk und Geschichte, von ihrem Gespür für politische Notwendigkeiten und ihrem Verhältnis zur politischen Klasse. All das besaß de Gaulle in gutem Maße. 

Willms beschreibt es durchweg mit Abstand von den Leistungen und mit Anstand vor den Schwächen. Immer spürt man, daß de Gaulle eigentlich nur eine Begleiterin hatte, die Geschichte. Die Auswahl der Bilder in der Mitte des Bandes runden das Opus personae im Gang durch diese Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts gekonnt ab. Den Schlußpunkt setzte de Gaulle selbst, indem er in seinem Testament verfügte, daß an seinem Grab keine Reden gehalten werden sollten. Die Geschichte sollte das letzte Wort behalten. So geschah es. Der Figaro druckte das Testament zwei Tage nach dem Tod ab, sozusagen als Präludium für viele Bücher über das Leben des Generals. In dieser Reihe gehört das Werk von Johannes Willms zweifellos zu den wahrhaftigsten, mithin lesenswertesten.

Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2019, gebunden, 640 Seiten, Abbildungen, 32 Euro