© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Identität ist das neue CO2
Hinein in den „wunderbaren Mischmasch, den multikulturellen Gulasch“: Kwame A. Appiah über „Fiktionen der Zugehörigkeit“
Wolfgang Müller

Kwame Anthony Appiah, Jahrgang 1953, lehrt Philosophie an der New York University. Dort „schreibt und grübelt er seit drei Jahrzehnten über Fragen der Identität“. Umgekehrt wäre es praktischer gewesen. Es hätte vielleicht die beachtliche Fehlinvestition von Lebenszeit vermieden, die sein jüngstes Werk als Ertrag solcher „Grübeleien“ (Gustav Frenssen) zu diesem Thema ausweist. 

Ihren Ausgang nahmen sie von eigenen Identitätsproblemen, die dem Autor als Sohn eines Ghanaers und einer Engländerin quasi in die Wiege gelegt wurden, die ihn aber auch als Homosexuellen bedrängten. Zusätzliche Komplikationen erwarteten ihn als britischen Staatsbürger, wie er gleich eingangs beklagt, nach seiner Einwanderung in die USA, wo Zweifel aufkamen, ob er sich nicht der eigenen Identitätsgruppe der „Gemischtrassigen“ zuzählen müsse. Und wo ihn eine „durchaus beharrliche Unterströmung“ störte, die einem auf die „weiße Rasse“ bezogenen Nationalismus huldigte, der ihn aufgrund seiner Hautfarbe nicht als „richtigen Amerikaner“ akzeptieren wollte.

Auf den ersten Blick scheint Appiah mit seinen Identitätsreflexionen also nur Friedrich Nietzsches Ideal nachzueifern, die Biographie eines wirklichen Philosophen sei mit „Leib und Leben“ zu schreiben und müsse rückstandslos in seine Schriften eingehen. Doch im Fortgang des autobiographisch überladenen, nach typisch angelsächsischer Manier auf Smalltalk-Ebene abgesenkten und nicht selten bloß geschwätzigen Textes zeigt sich, daß Subjektivität, wie von Nietzsche vorausgesetzt, kein Garant für Wahrhaftigkeit ist. Hier jedenfalls transportiert sie ein hochprozentig dumpfes wie aggressives Ressentiment gegen jene Kräfte, die der „offenen, unverschämten, direkten, dürren Ausbeutung“ (Karl Marx/Friedrich Engels, 1848) noch entgegenstehen. Obwohl Appiah nicht verborgen geblieben ist, daß diese Abwehrfront sich derzeit gegen eine „kosmopolitische Elite“ formiert, die als oberes Fünftel der US-Gesellschaft einen größeren Einkommenszuwachs seit 1979 erzielte als die übrigen 80 Prozent. Das sei jedoch „unvermeidlich“, wiegelt der intellektuelle Clerk der Eliten ab.

Deshalb will Appiah keine Erklärung dafür anbieten, warum das Reden über Identität seit den 1970ern „geradezu explodierte“. Dafür seien Ideen- und Sozialhistoriker zuständig. Womit der Verfasser sich jede ideologie- und somit selbstkritische Reflexion, jede Frage nach der gesellschaftspolitischen Funktion des Identitätsdiskurses und dessen sozioökonomischen Resonanzbedingungen abschneidet. Was es ihm allerdings enorm erleichtert, als Ankläger gegen eine an die „Essenzen“ von Religion, Land, Ethnie („Hautfarbe“), Klasse, Kultur gebundene Identität aufzutreten und zeitgeistkonform für den schnellstmöglichen Abschied von diesem aus dem 19. Jahrhundert ererbten „Denkmuster“ zu plädieren. Weil es, dies seine „Hauptthese“, das Zusammenleben in den expandierenden multi-ethnischen Kollektiven des 21. Jahrhunderts gefährden würde.

Was er gegen die inkriminierten fünf „Essenzen“ vorbringt, erschöpft sich in den handelsüblichen Gemeinplätzen des „Dekonstruktivismus“, wonach nicht allein das Geschlecht eine „Erfindung“, sondern auch sonst alles, was das Miteinander nicht nur „alter weißer Menschen“ in den letzten dreitausend Jahren ermöglichte, auf „Fiktionen der Zugehörigkeit“ basiert. Es lohnt kaum mehr, darauf etwa mit dem Einwand einzugehen, daß, um nur für die Essenz „homogener Nationalstaat“ zu sprechen, die Theoretiker dieses Konzepts, beginnend im 18. Jahrhundert bei Rousseau und Herder, sich über dessen konstruktiven Charakter vollauf im klaren gewesen sind. Womit ihre politische Philosophie sich auf der Höhe kantischer Vernunftkritik bewegte. Nehmen wir doch Wirklichkeit, das „Ding an sich“, nur gefiltert durch Anschauungen und Begriffe wahr, wie der Königsberger „Alleszermalmer“ Immanuel Kant lehrt. 

Unsere gesamte Gedankenwelt, nicht nur wissenschaftliches Erkennen, ist von Fiktionen erfüllt. Die Mathematik zum Beispiel, Inbegriff exakter Wissenschaft, hantiert mit Fiktionen des Unendlich-Kleinen, des Negativen, Irrationalen, Imaginären. Diese unvermeidliche Durchsetzung unseres Denkens mit Fiktionen, so ist bei dem Kantianer Hans Vaihinger (1852–1933) nachzulesen, dessen „Philosophie des Als-ob“ sich mit Nietzsche wie mit dem US-Pragmatismus gleichermaßen berührt, sei anthropologisch aber kein Malus, sondern Wurzel für Erkenntnisstreben, Religion und Sittlichkeit. Fruchtbare Fiktionen erhöhen die Lebensintensität und befeuern alle geistige und kulturelle Entwicklung. Auch bei Appiahs Vision der postnationalen Weltgesellschaft handelt es sich ja letztlich um eine – kinderleicht zu dekonstruierende – Fiktion. Fraglich ist nur, ob ihre Umsetzung ins richtige Leben nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit zu geistiger Regression und zum profitablen Abbau des Menschlichen statt zu kultureller Höherentwicklung führt.

Obwohl Appiahs Attacke gegen die Identität, eine von Hunderten Pamphleten, keine Widerlegung verdient, ist doch aufschlußreich, zumindest in groben Skizzen zu erfahren, wohin denn die Reise für den Hofphilosophen der New Yorker Globalisten, den die Rockefeller Foundation bei der Abfassung dieses Buches begönnerte, gehen soll. Wie schaut sein „kosmopolitischer“ Zukunftsentwurf des One-World-Universalismus aus, der die vielfältig partikuläre Welt der Völker und Nationen abwickeln möchte?

Als Vorstufe dazu sieht er im kleinen die „wunderbare Stadt, in der ich lebe, den kulturellen Mischmasch“ New York. Darüber lagert sich die US-Nation aus Immigranten, deren Bürger anders als die Völker Europas ohne „mystisches Brimborium“, ohne gemeinsame Religion „oder gar die Illusion einer gemeinsamen Abstammung“ zusammenleben. Eine multikulturelle Harmonie, der sich Europa, so nudelt Appiah einen der ältesten Schlager der Freunde des toleranten Islam ab, im zehnten Jahrhundert, im „kulturellen Gulasch“ des maurischen Spaniens, unter der Herrschaft des Kalifen von Córdoba angenähert habe. 

Zwar sei dies „gewiß kein Paradies des Pluralismus“ gewesen, räumt er mit einem Rest von Geschichtskenntnis ein. Trotzdem tauge Córdobas „Blütezeit“ als Modell für das „moderne Experiment“ einer extrem individualistischen, atomistischen Weltzivilisation, in der selbst der hartnäckigste, der religiöse Essentialismus überwunden werde. Wenn das „Wesen“ des Islam sich bei Muslimen, die sich in Westeuropa „auf Dauer niedergelassen haben“, allmählich wandle und genauso verdampfe wie die kulturelle Substanz der autochthonen Gesellschaften, dann sei kein Muslim in Paris gehindert, westliche Werte, „kein New Yorker jedweder Herkunft“ gehindert, sich dem Islam zuzuwenden. Jeder kann auf diesem Karneval der Identitäten in jede Rolle schlüpfen. Den Zustand „absoluter Heimatlosigkeit“ (Nietzsche) hätte die posthumane Menschheit dann erreicht.

Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Carl Hanser Verlag, Berlin 2019, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro