© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Im Saunaclub am Petersplatz
Frédéric Martel erkennt im Vatikan ein homosexuelles Netzwerk, das in seiner Doppelmoral aber jede Liberalisierung der Sexualmoral verhindert
Marco F. Gallina

Eins muß man Frédéric Martel lassen, schreiben kann er. Seine Reportage erinnert an einen neuen Dan-Brown-Roman. Während bei Robert Langdon die korrupte Kirche noch die Beziehung zwischen Maria Magdalena und Jesus Christus vertuschen will, schaut der Autor lieber unter die Kardinalsröcke. Richtig gelesen: der gewöhnliche Thriller kennt Gelehrte der Semiotik oder Ikonologie, welche jahrhundertealte Codes entschlüsseln, Martel setzt dagegen sein „Gayradar“ ein, um die Homosexualität in den Leoninischen Mauern aufzuspüren. Während seiner Recherche stellt Martel, selbst schwul, eine Reihe von Regeln auf, welche die homosexuelle Lobby charakterisieren. Darunter: diejenigen Prälaten, die sich durch extreme Homophobie auszeichnen, sind meistens selbst homosexuell.

Wobei, von „Homo-Lobby“ kann gar keine Rede sein. Martel spricht von einer Mehrheit des katholischen Klerus, der entweder enthaltsam lebt oder seine Neigung offen auslebt. Ein Würdenträger äußert ihm gegenüber, etwa 80 Prozent der Priester im Vatikan seien homosexuell. Papst Franziskus lebe daher „nicht unter Wölfen“, sondern „unter Tunten“. Das Gerücht geht um, daß drei der fünf postkonziliaren Päpste homophil gewesen seien. Diese „Gemeinde“, wie sie Martel nennt, verpflichtet gleichermaßen zum Stillschweigen: wer seine Neigungen auslebt und das an die große Glocke hängt, muß damit rechnen, ausgeschlossen zu werden. Der „Heilige Schein“ zählt. Im Gegenzug fördert die „Gemeinde“ dezidiert schwule Priester in der katholischen Hierarchie.

Martel, 1967 nahe Avignon geboren, Journalist, Politikberater der französischen Sozialisten und Bestseller-Autor, hat mit seinem Buch schon im Vorfeld für Aufregung gesorgt. Es waren dabei nicht die homosexuellen Verstrickungen, welche die katholische Szene aufwühlten; diese waren spätestens im Sommer 2018 durch das Zeugnis des Nuntius Carlo Maria Viganò bekannt geworden. Stattdessen bietet Martels Buch neuen Stoff zum Rücktritt von Benedikt XVI. Demnach habe der homosexuelle Exzeß in Kuba den bayerischen Papst dermaßen erschüttert, daß er den Kampf gegen die sexuelle Korruption in der Kirche als verloren ansah. Die Verhältnisse, die laut Martel auf ganz Lateinamerika zutreffen, hatte der Philosoph auf dem Petrusthron bis dahin völlig unterschätzt.

Wer aber glaubt, die Aufdeckungen im vatikanischen Sumpf könnten den Traditionalisten dienen, um diesen endgültig trockenzulegen, der irrt gewaltig. Denn Martel ist nicht zuletzt auch Aktivist. Ihm geht es um die „Doppelmoral“. Das heißt: Er will das System entlarven, um es zu verändern. Der Zölibat ist für ihn eine widernatürliche Einrichtung, die seit Paul VI. gescheitert sei. Der Aderlaß im katholischen Priestertum seit den siebziger Jahren sei einzig auf die homosexuelle Befreiung zurückzuführen, da junge, homosexuelle Männer nun nicht mehr dazu verdammt waren, sich dem Priesterseminar zu verschreiben, um einer gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Warum die evangelischen Konfessionen, die nie dem Zölibat verpflichtet waren und heute eher Toleranz gegenüber Homosexuellen aufweisen, in derselben Zeit über einen größeren Aderlaß klagten, löst bei Martel keinen Gedanken aus; ebensowenig, daß die Kirche schon vor Paul VI. existiert hat.

Es drängt sich die Frage auf, warum Martels „Plaudertaschen“ so gerne tratschen. Erpressung, Intrigen, Macht und Sex – wer so lange im Geschäft ist wie der Klerus von Rom, kennt seine Kniffe. Daß auch Martels Buch sich dessen nicht entziehen kann, wird offensichtlich, wenn etwa Viganò als eitler Verlierer dargestellt wird, der sein Statement zum amerikanischen Mißbrauchsfall nur aus Rache wegen versagter Kardinalswürde veröffentlicht; oder wenn Martel seitenlang die Räumlichkeiten und die Garderobe von Kardinal Raymond Burke beschreibt, um darin homosexuellen Kitsch auszumachen. Überhaupt: Burke, das ist der Hauptgegner, weil er gegen Franziskus, gegen Reformen ist. Wenn Martel sogar behauptet, Ratzinger habe den Mißbrauchsskandal kaum unterbunden, während Franziskus sofort durchgegriffen habe, indem er Kardinal Blase Cupich dort beauftragte, dann täuscht er sein Publikum massiv – denn gerade Cupich war mit dem Mißbrauchstäter Theodore McCarrick eng befreundet. 

Das Manko des Buches bleibt völliges Unverständnis dafür, warum sich der Klerus so vehement gegen Homosexualität wehrt. Martel zitiert laufend Rimbaud, aber kennt offensichtlich nicht einmal die Grundsätze des katholischen Katechismus. Wenn ihm ein Vertrauter Burkes erklärt, daß nicht homosexuelle Neigungen, sondern der Akt Sünde ist, dann hält das Martel für den Versuch einer Hierarchisierung, ohne zu wissen, daß dies die Lehre der Kirche darstellt. Die Fresken der Sixtinischen Kapelle: schwule Subkultur. Dante: zumindest homophil. Die Madonna: typischer Mutterkult von Schwulen. 

Ein Ex-Priester erzählt Martel, er habe jahrelang keusch gelebt, bis ihn die römische Schwulenszene verdorben habe. Er legte danach die Soutane ab, ging in zivil auf die Straße und feierte immer seltener die Messe. Daß Martel nach solchen Aussagen immer noch zum „Umdenken“ auffordert, zeigt, daß die erwünschte Regenbogenkirche für ihn jenseits der „Gemeinde“ keinerlei Bedeutung hat. Die Braut Christi ist für ihn nur ein weiterer Saunaclub, in dem Anstandsregeln aus den fünfziger Jahren aufgelöst werden sollen.

Frédéric Martel: Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, gebunden, 672 Seiten, 26 Euro