© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Genosse Spion war immer dabei
Heribert Schwan versucht, aus den wenigen vorhandenen Quellen den Einfluß des SED-Regimes auf die Bonner Politik zu beleuchten
Ralf Georg Reuth

Es ist ein problematisches Unterfangen, ein Buch über die Bespitzelung der Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl durch den Staatssicherheitsdienst der DDR zu schreiben. Denn die schriftliche Hinterlassenschaft der dafür zuständigen, von Markus Wolf geführten Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) wurde im Zuge der Abwicklung der DDR weitgehend vernichtet. Es war aber nicht gelungen, alles zu tilgen und damit die „Kundschafter für den Frieden“, wie die Spione im Jargon der SED genannt wurden, vor dem Zugriff der bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden zu schützen.

Ein beträchtliches Konvolut von mikroverfilmten Karteikarten, die „Rosenholz-Dateien“, gelangte in die Hände der US-Amerikaner. Außerdem war es Wolfs Computerfachleuten nicht gelungen, alle Teildatenbanken von ihren Rechnern zu löschen. Dies galt für das System für Informations-Recherche der HVA (SIRA). Aus beidem konnte von den Experten der Bundesbehörde für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes eine Art Posteingangsbuch rekonstruiert werden, das seit 1969 die Decknamen der liefernden Agenten sowie inhaltsbezogene Überschriften der Berichte samt Eingangsdaten enthält.

Der Journalist Heribert Schwan hat nun das umfangreiche SIRA-Material ausgewertet. Hinzu kamen andere Aktenbestände des DDR-Geheimdienstes wie die überlieferten, meist gefledderten Aktenzusammenstellungen des MfS über die Bonner Politprominenz, die Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG), die die SED-Führung mit zusammengefaßten Informationen versorgte, aber auch die Anklageschriften aus den Prozessen, die vor und nach der Wende gegen HVA-Agenten in der Bundesrepublik geführt wurden. 

Danach habe 197 Inoffiziellen Mitarbeitern im Bonner Regierungsapparat eine „wissentliche und willentliche Zusammenarbeit“ mit dem MfS nachgewiesen werden können. Viele hätten nicht entschlüsselt werden können, schreibt Schwan und verweist auf das Beispiel der auf Helmut Kohl seit 1973 angesetzten „Kundschafter“: Von den 320 Spionen (!) hätten nur 70 mit Deck- und Klarnamen identifiziert werden können, 139 nur mit Decknamen, der Rest sei im Dunkel geblieben. 

Schwan liefert eine Fülle von technischen Informationen, wie Decknamen, Registriernummern und Verpflichtungsdaten der DDR-Aktivisten im bundesdeutschen Regierungsapparat. Im besonderen Fokus ihrer Arbeit standen dabei naturgemäß die politischen Führungsfiguren der Bonner Republik. So rangiert zum Beispiel der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner mit 1195 SIRA-Einträgen auf Platz sechs knapp hinter Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Franz Josef Strauß, Willy Brandt und Helmut Schmidt. 

Obwohl die Inhalte der Agenten-Berichte vernichtet wurden, kann Schwan mit einigen interessanten Charakteristiken von Bonner Polit-Größen durch das MfS aufwarten. So schrieb der Inoffizielle Mitarbeiter „Olaf“, alias William Born, über seinen FDP-Parteifreund Genscher: „Der persönliche Lebensstil ist ganz von der Karriere bestimmt. (…) In der Gesamtentwicklung dürfte er sich im nützlichen Sinne entwickeln.“ Über den Leiter des Bundeskanzleramtes Wolfgang Schäuble heißt es in einem Bericht, er sei ein „ehrgeiziger und zielstrebiger Politiker“, der zu denjenigen in der CDU gehöre, die gegenüber der DDR „eine sachliche und berechenbare Politik betreiben wollen“.    

Was die Befindlichkeit und Motivation der „Kundschafter“ anlangt, geht diese meist nicht aus den HVA-Unterlagen hervor. Schwan muß hierbei auf in der Literatur bereits ausgewertete Gerichtsunterlagen der bekannten Spionagefälle zurückgreifen. Er bewegt sich damit zwangsläufig in einem weithin bekannten Terrain, wenn er etwa über den zum Sturz Willy Brandts führenden Spion im Kanzleramt Günter Guillaume, über den Verfassungsschutz-Mitarbeiter Klaus Kuron oder über Johanna Olbrich, die Chefsekretärin des FDP-Politikers Martin Bangemann, berichtet. Doch Schwan wäre nicht Schwan, wenn es ihm nicht gelänge, alles recht gekonnt zu einem gut lesbaren Buch zusammenzufügen. 

Die Schwäche seiner Darstellung ist nicht der durch die begrenzte Quellenlage vorgegebene Einblick in die Tätigkeit der DDR-Spione, sondern die ausbleibende Einbettung derselben in den zeitgeschichtlichen Kontext. So erschließt sich für den Leser nicht so recht die Dimension der Arbeit der „Kundschafter für den Frieden“. Sie waren ein unsichtbarer Teil des Kalten Krieges, des Kampfes zweier antagonistischer Systeme, der insbesondere im geteilten Deutschland ausgetragen wurde und der vor dreißig Jahren zu Ende ging.

Heribert Schwan: Spione im Zentrum der Macht. Wie die Stasi alle Regierungen seit Adenauer bespitzelt hat. Heyne Verlag, München 2019, gebunden, 384 Seiten, 24 Euro