© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/19 / 18. Oktober 2019

Herabwürdigung wurde zur Staatsraison
Ilko-Sascha Kowalczuk beklagt die fehlende gleiche Augenhöhe bei der Wiedervereinigung 1990. Aktuelle Probleme zwischen Ost und West liegen darin begründet
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Die DDR zählte 1989 nach ihrer  selbst im Westen geglaubten Propaganda und in der Bundesrepublik selbst im gymnasialen Gemeinschaftsunterricht gelehrten Gewißheit, „zu einer der stärksten Industrienationen der Welt“. In Wahrheit war sie eine Zusammenbruchsgesellschaft, ihre Verschuldung betrug mehr als die Hälfte der Staatshaushaltsausgaben, die Arbeitsproduktivität nur ein Drittel der in Westdeutschland. Äußerst lebendig schildert Ilko-Sascha Kowalczuk, mit einschlägien Werken zur DDR-Geschichte hervorgetretener Historiker, die Ereignisse bis zum Mauerfall. Im Westen unbemerkt, lenkte die Staatspartei geschickt von ihrer historischen Verantwortung ab und stellte die Stasi als Zentrum des DDR-Unrechts dar. Ansonsten wäre ein Überleben der SED/PDS als Hauptverantwortliche politisch wohl kaum möglich gewesen. So aber rettete die Partei einen Großteil ihres beträchtlichen Vermögens und SED-Funktionäre – die eigentlichen Stützen des Regimes und Auftraggeber der Stasi – galten im Gegensatz zur Stasi als „unbelastet“ und konnten sogar im öffentlichen Dienst weiterarbeiten. Zu Recht fragt der Verfasser, ob die umbenannte PDS (heute Die Linke) sich von ihrer Vergangenheit gelöst hätte.

Recht kritisch sieht Kowalczuk daber auch die Bundesrepublik. Für Bonn kam der Mauerfall trotz aller BND-Hinweise völlig unvorbereitet, ohnehin dachten die dortigen Politiker kaum noch an eine Wiedervereinigung. Statt „Patriotismus der Solidarität“ mit gemeinsamem Neubeginn wollte die Bundesrepublik nicht im neuen Deutschland aufgehen; stattdessen blieben ihre Gewohnheiten, ihre Selbstgefälligkeit. Bundeskanzler Helmut Kohl empfing im Frühjahr 1990 die neue, frei gewählte DDR-Regierung „herablassend, demütigend“ – selbst Erich Honecker hatte er drei Jahre zuvor mehr Respekt erwiesen. Daß die „Ossis“ von der DDR-Geschichte geprägt waren, blieb den „Wessis“ unverständlich. Letztere hatten den Herbst 1989 verschlafen, dennoch behaupteten sie arrogant, sie hätten ein „siegreiches System“, seien auch dem Osten überlegen. Man müsse die Landsleute in der DDR nur  nach bundesdeutschem Ebenbild „umerziehen“. Überaus deutlich vermerkt der Autor in seinem größte Verbreitung zu wünschenden Buch: „Herabwürdigung wurde zur Staatsraison“.

Unbestritten beliefen sich die Transferleistungen für die Ex-DDR auf bis zu zwei Billionen Euro, deren Städte haben sich sensationell verschönt, fast alle „Ossis“ haben zumindest materiell mehr gewonnen. Viele Verdienste erwarben sich die Helfer aus dem Westen auch beim notwendigen Aufbau der Ex-DDR. Sie kamen aber nicht als Gleiche zu Gleichen, sie waren die Vorgesetzten. Ihre Extra-Besoldung, „Buschzulage“ genannt, konnte die Vorurteile im Osten nur bekräftigen. Deren kaum Grenzen kennende Hoffnung barg zugleich eine Enttäuschungsgefahr, die bald Realität wurde: Bis 1993 ging ein Drittel aller Arbeitsplätze verloren. Arbeit bedeutete mehr als im Westen der Job, es war eine Lebenskultur. Zwei Millionen Menschen zogen in den Westen zur Arbeit … 

Man wollte nicht den bundesdeutschen Rechtsstaat, sondern Gerechtigkeit. Diese ist mehr wert als Geld, Arbeit und soziale Sicherheit. Zudem wurden allzu oft die Systemträger der SED-Diktatur besser gestellt als deren Opfer. Der Ost-West-Gegensatz in Deutschland hat sich stark verfestigt; dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer sieht sich fast die Hälfte der „Ossis“ als „Deutsche zweiter Klasse“. Vielsagend meint der Autor, „noch ist es möglich, Ostdeutschland zu retten“.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 320 Seiten, 16,95 Euro