© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Syrien als Ernstfall
Das eigenmächtige türkische Abenteuer schwächt Berlin und läßt die EU nackt dastehen
Michael Paulwitz

Der Ernstfall bringt es an den Tag: Das Herumlavieren der deutschen und europäischen Politik angesichts des Einmarschs der türkischen Armee in die nordsyrischen Kurdengebiete hat aller Welt vor Augen geführt, daß Deutschland im internationalen Konzert nicht einmal mehr den Status einer respektierten Mittelmacht beanspruchen kann und die EU wenig mehr als einen zahnlosen Papiertiger mit imposantem bürokratischem Wasserkopf darstellt.

Deutschland ist nicht annähernd in der Lage, dem bloßgestellten EU-Popanz wenigstens eine eigenständige Interessenpolitik zur Seite zu stellen und die Brüsseler Hülle mit Richtung und Inhalten zu füllen. Der vielbemühte Status der Berliner Republik als „stärkstes“ EU-Mitglied ist bloße Staffage.

Auch der von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ins Spiel gebrachte Plan einer international garantierten „Sicherheitszone“ in Nordsyrien taugt letztlich nur für die Ablage mit der Aufschrift „Fromme Wünsche“. Als Chefin einer mutwillig bis zur Karikatur ihrer selbst heruntergewirtschafteten Truppe ist die deutsche Verteidigungsministerin eine Königin ohne Land und eine Oberkommandierende ohne Armee. Die Frage, ob die Bundeswehr sich an irgendeiner „multilateralen“ Lösung in Syrien beteiligen könne oder solle, stellt sich nur theoretisch.

Für die USA hat Donald Trump schon entschieden, ohne Berlin auch nur in den Verteiler zu setzen. Mehr als die Entsendung eines symbolpolitischen Kontingents, das gleichwohl reale Opfer an gefallenen Soldaten bedeuten könnte, käme für die zusammengeschrumpfte deutsche Armee wohl ohnehin nicht in Frage. Eine nüchterne, die Interessen und Möglichkeiten des eigenen Landes abwägende Erörterung der Handlungsoptionen findet jenseits moralischen Tremolierens über die Schrecken des Krieges im allgemeinen und den in der Tat schäbigen abermaligen Verrat des Westens an den Kurden gar nicht erst statt.

Würde sie ehrlich geführt, käme sie vielleicht zu analogen Schlußfolgerungen wie zuvor Trump für die USA: daß Deutschland kein geopolitisches Interesse im Mittleren Osten hat, daß die Neuordnung des Raumes nach dem von US-Verbündeten angerichteten Schlamassel beim russischen Präsidenten, der sowohl den neo-osmanischen Möchtegern-Sultan Erdogan als auch den syrischen Überlebenskünstler Assad in die Schranken verweisen kann, gar nicht so schlecht aufgehoben ist, und daß eine Einmischung in den orientalischen Dauerzank, mit Bismarck zu sprechen, nicht die Knochen eines einzigen gesunden Grenadiers wert ist.

Den fehlenden Machtmitteln entspricht das klägliche Niveau des politischen Personals. Schlüsselpositionen wie das Außen- und das Verteidigungsressort sind mit mittelmäßigen Parteikarrieristen besetzt, deren hohle Phrasendrescherei und Inkompetenz keinem Beobachter und erst recht keinem Gegner verborgen bleibt.

Nicht nur von Verbündeten und Partnern werden deutsche Ministerdarsteller kaum noch ernstgenommen. Der türkische Präsident, der sich mit seinem syrischen Abenteuer verrechnet hat, trifft gleichwohl mit dem sicheren Instinkt des Schulhofrüpels die Schwachstelle des deutschen Personals, wenn er dessen stumpf gewordene Sanktionsankündigungen verlacht und dem deutschen Außenminister ins Gesicht höhnt, der verstehe ja nichts von Politik.

In Putin mag Erdogan seinen Meister gefunden haben, gegenüber der Merkel-Regierung kann er allemal noch auftrumpfen wie ein Sultan, der seine Provinzgouverneure herunterputzt. Denn Deutschland ist nicht nur nach außen machtlos, sondern auch im Inneren geschwächt und erpreßbar. Und das vornehmlich durch eigene Schuld und Torheit.

Über Jahrzehnte hat die Bundesrepublik Großeinwanderung aus der Türkei zugelassen. Die daraus entstandenen Parallelgesellschaften bilden die Verwerfungen der Heimatgesellschaft getreulich ab. Erdogan nutzt seine Anhänger, die unter den in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern und eingebürgerten türkischen Migranten überproportional vertreten sind, als fünfte Kolonne, um bei Bedarf die deutsche Politik unter Druck zu setzen.

Während Erdogans Imame in den von dessen Religionsamt finanzierten und von deutschen Politikern hofierten und subventionierten Moscheen Solidarität mit dem Sultan predigen, während Erdogans Fußballer landauf, landab ihrem Feldherrn salutieren und auf europäische Spielregeln pfeifen, nutzen seine kurdischen Widersacher den deutschen Rückzugsraum, um ihren Aufstand gegen die türkischen Unterdrücker auf europäischem Boden fortzusetzen. Demonstrationen, bei denen kurdische und türkische Nationalisten aneinandergeraten, gibt es seit Jahrzehnten. Das Integrationspalaver ist an ihnen ebenso spurlos vorübergezogen wie an den kickenden Vorzeige-Migranten.

Zum importierten türkisch-kurdischen Bürgerkrieg hat sich mit der Massenmigration aus dem Orient und Nordafrika ein weiteres hochexplosives Pulverfaß gesellt. Die Merkel-Regierung hat zuerst vor dem Ansturm auf die deutschen Grenzen kapituliert, hat die Krisenherde in Syrien und dem Rest der Region dadurch faktisch zum innenpolitischen Problem Deutschlands gemacht und sich sodann mit einem fragwürdigen Abkommen auf Gedeih und Verderb dem Sultan vom Bosporus ausgeliefert.

Der spielt diese Trumpfkarte bis zur letzten Transfermilliarde und bis zur letzten Asyl-Karawane aus. Wer ihm in die Quere kommt, riskiert, mit nach Millionen zählenden Migrantenströmen geflutet zu werden. Die Migrationskrise ist der Urgrund der deutschen Paralyse, das hat Erdogans Syrien-Abenteuer in mitleidloser Schärfe klargemacht. Will es noch eine Zukunft haben, muß Deutschland seine Souveränität zurückgewinnen. Und Souveränität fängt an den Grenzen an.