© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

„‘Halle’ könnte der AfD noch schaden“
Trotz des rechtsextremen Amoklaufs vor zwei Wochen sind die Umfragen für die Alternativen in Thüringen stabil. Warum? Und welchen Einfluß haben Medien und Trendforscher? Fragen an Hermann Binkert, Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA
Moritz Schwarz

Herr Binkert, ist die Wahl in Thüringen nach dem rechtsextremen Amoklauf in Halle und dessen massiver Politisierung noch einfach „nur eine Landtagswahl“?

Hermann Binkert: Das sind Landtagswahlen sowieso oft nicht. Meist wählt ein Teil der Leute eher nach bundes- als nach landespolitischen Gesichtspunkten. Wobei es schon auch Landtagswahlen gibt, die besonders landespolitisch geprägt sind. Ein Beispiel etwa sind die Erfolge des CDU-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg in den achtziger Jahren, Lothar Späth, dem Wahlsiege gegen den Bundestrend gelangen. Oder wenn es vor allem um landespolitische Themen geht, etwa Bildung oder Innere Sicherheit, die ja der Hoheit der Länder unterliegen.

Gemeint war eher, ob die Wahl zum Plebiszit wird: pro oder contra AfD?

Binkert: Unsere erste Umfrage seit dem Fall Halle ist noch nicht ausgewertet. Doch waren ja schon die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg davon zum Teil überlagert, und in Thüringen wird das sicher auch so sein.

Etliche AfD-Gegner hoffen, durch Skandalisierung wie nun im Fall Halle – aber auch durch tatsächliche AfD-Skandale – werden die Wahlerfolge der Partei irgendwann enden. Setzen sie, zur Freude der AfD, auf die falsche Strategie? Oder freut sich die AfD zu früh?

Binkert: Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn Demoskopie erhebt den Ist-Zustand, fragt, was denken oder wählen die Menschen jetzt. Sie macht aber eigentlich keine Vorhersagen darüber, was die Bürger, etwa am kommenden Sonntag, tatsächlich wählen werden. Jeder dritte Wähler entscheidet sich in der letzten Wahlkampfwoche beziehungsweise erst am Wahltag. Vierzig Prozent der „Letztentscheider“ sind taktische Wähler.

Aber Sie erheben seit 2013 Daten zur AfD. Lassen sich daraus keine wahrscheinlichen Entwicklungen folgern? 

Binkert: Nein. Was wir aber zum Beispiel ermittelt haben ist, daß die AfD inzwischen ein vergleichsweise sicheres Wählerpotential hat. Was eher darauf hindeutet, daß diese Strategie nicht aufgeht.

Was genau bedeutet „vergleichsweise“ und „sicher“?

Binkert: Vergleichsweise, in bezug auf die großen Parteien, und sicher, daß ihr sicherer Wähleranteil hoch ist. Bei der AfD, die im Bund bei etwa 15 Prozent liegt, sind das zwölf Prozent – also achtzig Prozent ihrer Wählerschaft. Zum Vergleich: Die Linke kommt auf acht Prozent, davon sind nur etwa sechzig Prozent sichere Wähler. 

Das widerspricht allerdings völlig der üblichen Analyse von der AfD als Protestphänomen, die viele Wechsel-, aber nur wenige Stammwähler habe?

Binkert: Ich fand das auch schon immer fragwürdig. Und zwar weil wir auch oft erheben, wo sich die Wähler einer Partei diese wünschen: In der Opposition? Als den kleinen oder als den führenden Koalitionspartner? Die meisten AfD-Wähler wollen, daß sie regiert. Doch Protestwählern genügt dagegen meist die Opposition, da sie mit ihrer Wahl ja nur das Verhalten der anderen Parteien beeinflussen wollen. 

Woher dann die Deutung als Protestpartei?

Binkert: Die Frage müssen Sie bitte jenen stellen, die das stets behauptet haben. Übrigens haben wir zudem erhoben, daß die AfD vor allem wegen ihrer Positionen gewählt wird. Auch das zeigt an, daß sie eigentlich keine reine Protestpartei ist. 

Warum hat der Amoklauf von Halle nicht zu einem Knick für die AfD geführt? Wäre das nach der intensiven politischen Instrumentalisierung nicht zu erwarten gewesen?

Binkert: Das mit der politischen Instrumentalisierung haben Sie gesagt. Ich finde es zwingend notwendig, daß man Antisemitismus ganz entschieden widerspricht und zwar mit Klartext. Sollte sich aber bei der Wahl am Sonntag, wie schon beim Bundestrend, kein oder nur ein minimaler Rückgang für die AfD ergeben, so liegt das an dem erläuterten Umstand einer vergleichsweise sicheren Wählerschaft. Es scheint also, daß bei denen, die die Partei bereits wählen wollen, die im Fall Halle erhobenen Anschuldigungen nicht wirken – oder sie gar bestärken, AfD zu wählen, um sie gleichsam gegen die Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Aber dennoch könnte Halle der AfD schaden. Nämlich dann, wenn das Thema den anderen Parteien zusätzliche Wähler zutreibt, die nur deshalb für diese stimmen, um damit ein Zeichen gegen die AfD zu setzen. 

Im Bundestrend liegt die AfD – je nach Institut und Umfrage – zwischen zwölf und 15 Prozent. Vor Halle waren es 13 bis 16 Prozent.

Binkert: Diese Einbuße ist zu gering, um daraus etwas zu schlußfolgern. Ein Prozentpunkt weniger kann also mit Halle zu tun haben oder auch nicht. Das kann keiner sagen – vor allem, weil es gut im statistischen Schwankungsbereich liegt.

Woher kommt eigentlich dieser Schwankungsbereich, der ja meist mit drei Prozent angegeben wird?

Binkert: Das ist ein ganz normaler Umstand in der Statistik. Die Fehlertoleranz berücksichtigt einen gewissen Schwankungsbereich, in dem die Messung – etwa das ermittelte Ergebnis für eine Partei in der „Sonntagsfrage“ – (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) liegt: Ausgehend von einer Erhebung auf Grundlage von eintausend befragten Personen – das ist das häufigste Umfrageformat für die sogenannte Sonntagsfrage – liegt diese üblicherweise für vierzig Prozent erhaltene Wählerstimmen bei drei Prozentpunkten Schwankung. Liegt eine Partei dagegen bei dreißig Prozent haben wir 2,8 Prozentpunkte Schwankungsbreite plus und minus – bei zwanzig Prozent 2,5 Prozentpunkte, bei zehn Prozent 1,9 Prozentpunkte und bei fünf Prozent 1,4 Prozentpunkte Schwankungsbreite. Der Grund, daß die Fehlertoleranz wächst oder schrumpft ist, daß kleine Anteile an Befragten in einer Umfrage – eben etwa bei einer Partei, die bei fünf Prozent liegt – einer größeren Schwankungsmöglichkeit im Bereich des jeweiligen Anteils unterliegen. Je mehr Fälle, desto genauer und zuverlässiger ist die Messung.

Laut Forsa meinen neunzig Prozent der Nicht-AfD-Wähler, daß die Partei für den rechtsextremen Amoklauf von Halle mitverantwortlich ist. Bedenkt man, daß sonst immer auch ein nicht geringer Teil derer, die nicht AfD wählen, dennoch befürwortet, daß diese in der Politik eine Rolle spielt, ist dieser Wert für die AfD doch sehr bedenklich, oder?

Binkert: Wahrscheinlich nein, denn Sie können daraus nicht schließen, daß sich bei der Frage, welche Rolle die AfD in der Politik einnehmen soll – also Opposition, Regierungsverantwortung oder gar nicht ins Parlament kommen – der Wert neunzig Prozent wiederholen würde.

Warum nicht? Denn das wäre doch ein Widerspruch: Wer würde eine politische Partei im Landtag wollen, die für ein Attentat mitverantwortlich ist? 

Binkert: Weil es auch Wähler gibt, die eine Mitverantwortung der AfD für den rechtsextremen Amoklauf bejahen, aber es aus anderen Gründen richtig finden, daß es die AfD gibt. Selbst dann, wenn sie sie nicht wählen. Diese Gründe können vielfältig sein. 

Was ist von der Meinung der Bürger zu halten, wenn sie so widersprüchlich, also nicht konsistent ist? 

Binkert: Ob das konsistent ist oder nicht, will ich nicht bewerten. Unsere Aufgabe ist es, zu erheben, was die Leute denken. Wie das intellektuell oder inhaltlich zu bewerten ist, gehört nicht dazu. Wir bewerten Zahlen, nicht Meinungen. In die Interpretation der Ergebnisse wollen wir unsere eigene Logik, welche auch immer, nicht in die Befragten hineinprojizieren.

Inwiefern handelt es sich tatsächlich um eine „eigene“ Meinung der Bürger, wenn sie keine konsistente Substanz hat? 

Binkert: Nochmal, das zu bewerten ist nicht unsere Sache und jede Meinung hat auf ihre eigene Weise Substanz. Aber natürlich ist Ihre Frage nicht unberechtigt. In der Tat wird von vielen Leuten  in unseren Meinungsbefragungen – wenn auch keineswegs von allen – nur gespiegelt, was in den Medien veröffentlicht wird. 

Verlieren Sie als Meinungsforscher da nicht den Respekt vor dem „Souverän“, der offenbar, statt souverän zu sein, nur „spiegelt“?

Binkert: Die Leute sind eben oft unpolitischer, als man sich das wünscht und viel mehr mit ihrem Alltag als mit politischen Fragen beschäftigt. Das ist nun mal so und muß respektiert werden.

Wie groß ist dann der Einfluß der Medien tatsächlich, wenn diese nicht nur zur Meinungsbildung beitragen, sondern bei vielen Bürgern offenbar gar die eigene Meinung ersetzen?

Binkert: Den Einfluß würde ich schon als enorm einstufen – wobei ich nicht von „ersetzen“ sprechen würde.

Wenn also ein „enormer“ Anteil der Bürger so beeinflußbar ist – wie sinnvoll ist dann das Konzept der Demokratie, in dem doch das Volk und nicht die Medien herrschen sollen?

Binkert: Deshalb sollte jede demokratische Gesellschaft ein breites und plurales mediales Meinungsspektrum haben, damit der Wettbewerb der Meinungen gegeben ist.

Ist das bei uns der Fall? 

Binkert: Es gibt nichts, was nicht noch besser sein könnte. 

Müßte eine so starke Beeinträchtigung der Demokratie nicht als Dauerthema in der Öffentlichkeit, also den Medien, diskutiert werden?

Binkert: Das ist ein Thema für Medienkritiker oder Politiker, nicht für einen Meinungsforscher.

Etliche Bürger vermuten, Meinungsforscher fälschen Umfragen. 

Binkert: Nein. Für uns kann ich das ausschließen.

Aber dennoch können Meinungsforscher Politik machen? 

Binkert: Das stimmt, und ich gebe Ihnen ein Beispiel: Es gab etwa einmal eine Umfrage: „Kindergeld vor der Geburt?“ Formuliert wie folgt, nämlich „Ich bin für Kindergeld vor der Geburt, damit das Bewußtsein für den Schutz des ungeborenen Lebens steigt“, wurde sie von der Mehrheit der Befragten abgelehnt. Aber in der Fassung „Ich bin für Kindergeld vor der Geburt, damit die Eltern genügend Mittel für die Erstausstattung haben“ fand sie eine Mehrheit. Das hat aber nichts mit Fälschung zu tun, sondern ist eine Frage, wie etwas verpackt ist. Das ist auch die Erklärung dafür, warum man mit „Trägt die AfD eine Mitverantwortung für Halle?“ und „Sollte sie als Opposition eine Rolle im Landtag spielen?“ eigentlich nicht zueinander passende Ergebnisse erhält. Neben den Zahlen ist auch die Fragestellung ein zentraler Aspekt unserer Arbeit.

Landeschef und Spitzenkandidat Björn Höcke wird oft als der Problempolitiker der AfD dargestellt. Trifft der Vorwurf zu?

Binkert: Nun, immerhin sagen uns mehr Wähler, daß sie die Partei wegen Höcke nicht wählen, als daß sie sie wegen ihm wählen.

Das besagt allerdings angesichts eines starken Umfrageplus für die thüringische AfD – laut letzten Erhebungen zwischen 9,5 und 13,5 Prozent – doch gar nichts.

Binkert: Auch für die Landes-AfD gilt, was ich vorhin schon gesagt habe, daß die Partei, nicht wegen ihres Personals, sondern wegen ihrer Positionen gewählt wird. Und während sie in den letzten Umfragen bei 20 bis 24 Prozent lag, kommt Herr Höcke in der Ministerpräsidentenfrage nur auf zehn Prozent Zustimmung. 

Das aber gilt für fast alle AfD-Spitzenkandidaten, ist also kein Argument gegen Höcke. Außer, er schnitte im Vergleich zu diesen deutlich schlechter ab. Ist das denn der Fall?

Binkert: Dazu haben wir keine ohne weiteres vergleichbaren Zahlen. Deshalb würde ich es so formulieren: Herr Höcke nützt der AfD weniger, als seine Anhänger glauben – aber er schadet ihr auch weniger, als seine Gegner fürchten. 






Hermann Binkert, ist Geschäftsführer des Markt- und Sozialforschungsinstituts INSA Consulere, das er 2009 in Erfurt gegründet hat. Zuvor war der ehemalige CDU-Politiker, 2014 verließ er die Partei, persönlicher Referent der thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Dieter Althaus, Staatssekretär in der Staatskanzlei sowie Bevollmächtigter des Landes Thüringen beim Bund und Leiter der Landesvertretung in Berlin. Geboren wurde der Jurist 1964 im südbadischen Waldshut-Tiengen.

 www.insa-online.de

Foto: Wahlkampf in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt am 7. Oktober: „In der Tat wird von vielen Leuten in unseren Meinungsbefragungen – wenn auch keineswegs von allen – nur gespiegelt, was in der Presse veröffentlicht wird ... Den Einfluß der Medien würde ich schon als enorm einstufen ... Die Bürger sind eben oft unpolitischer, als man es sich wünscht“

 

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