© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

„Wenn Ramelow mich sieht, nimmt er Reißaus“
Thüringen vor der Wahl: Dem Freistaat stehen unklare Machtverhältnisse bevor / Seine Bewohner haben sich ihren Eigensinn bewahrt
Martina Meckelein

Carmen Riedel sitzt auf einer Feldsteinmauer vor ihrem Haus im Thüringer Wald. Die Sonne scheint, Katzen streifen durch die Blumenbeete. Nachbarn grüßen. Am Abend zuvor hatten sie gemeinsam gegrillt und am Lagerfeuer gesungen – natürlich auch das Rennsteiglied. „Ich will überhaupt nicht woanders leben und kann mich nicht beklagen“, sagt die Kriminalhauptkommissarin. „Ich denke aber, daß wir Thüringer, vielleicht ist es sogar ein Konsens unter uns Ossis, keine Angleichung an die Lebensverhältnisse West wollen.“

 1,734 Millionen wahlberechtigte Thüringer stecken am 27. Oktober in einer Zwickmühle. An diesem Sonntag treten 18 Parteien in 44 Wahlkreisen zur Wahl an. Soll der amtierende Ministerpräsident von den Linken Bodo Ramelow im Amt bleiben? Wenn ja, mit welchen Koalitionspartnern? Oder soll ihn der ewig junge CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzende Mike Mohring ablösen? Der letztgenannte liegt laut ARD-Deutschlandtrend mit dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke gleichauf, nur will bisher niemand mit der AfD die Regierungsbank teilen. Wie ist die Stimmungslage im Land, das so gern mit Bratwurst und Weimarer Klassik Werbung macht?

 „Ich brauche jedenfalls keine Beutegesellschaft und keine zusätzlichen Menschen, die hier Straftaten begehen“, sagt Riedel. „Die Welt ist groß, sie können weiterziehen.“ Bei den Worten zeigt sie in Richtung Rennsteig und darüber hinaus. „Wenn hier die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie wegfallen, werden wir noch genug sicherheitsrelevante Probleme bekommen.“ Wählt sie AfD? „Ich bin mir nicht sicher. Weder möchte ich die Altparteien noch Höcke wählen. Es ist auch so ein Vorurteil des Westens, daß wir alle AfD wählen würden. Die AfD ist keine Erfindung des Ostens, und die Chefs sind meines Wissens zum größten Teil aus dem Westen, wie Herr Höcke.“ Dann schmunzelt sie und sagt: „Ramelow ist ja auch ein Wessi und Kemmerich, der Spitzenkandidat der FDP, ebenfalls.“

 Die geborene Thüringerin arbeitet seit 1992 bei der Polizei, hat deren Aufbau nach der friedlichen Revolution hautnah erlebt: Die Polizeiskandale der neunziger Jahre, die Umstrukturierungsversuche, bis hin zur Stellenstreichung. Heute ist die Polizei überaltert. „Die Erfahrung geht in Rente“, sagt Riedel. „Das ist unersetzbar. Da hilft es auch nicht, junge Leute einzustellen. Zumal es an Lehrern fehlt. Wer will denn als Dozent an die Polizeischule nach Meiningen gehen? Der Standort ist unattraktiv.“ Und nicht nur der: Anfang des Monats drohte Innenminister Georg Maier (SPD) seinen Polizisten sogar, daß sie mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen hätten, würden sie sich dem „Flügel“ der AfD zurechnen. „Wurde früher offen diskutiert, spreche ich nur noch mit Kollegen, denen ich vertraue über politische Themen“, sagt die Beamtin.

Es wäre besser, den         Osten in Ruhe zu lassen

Rentner Helmut Rudolph hingegen nimmt kein Blatt vor den Mund. Denn er hat nichts mehr zu verlieren. Seit 30 Jahren kämpft der heute 66jährige gegen die Macht der roten LPG-Barone, deren Reiche bis heute nicht untergegangen sind. 1960 wurde Rudolphs Familienbetrieb zwangskollektiviert. Zehn Hektar am Rande Erfurts, dazu die Maschinen, wurden Volkseigentum. „Nach der Wende sollten wir alles zurückbekommen.“ Grundlage dafür war das Landwirtschaftsanpassungsgesetz, erklärt der Meister der Rinderzucht. „Doch viele von uns, ich gehöre auch dazu, wurden einfach rausgedrängt und mit geringen Summen abgespeist.“ 

„Wir verloren.“ Rudolph ist kein Einzelfall. „Politiker muß man in die Pflicht nehmen. Sie machen die Gesetze, sie haben die Verantwortung. Ich habe jeden Ministerpräsidenten angeschrieben. Doch es tut sich nichts. Gesetze müssen uns doch zur Gerechtigkeit verhelfen.“ Von der anstehenden Wahl verspricht er sich nichts. „Der Ramelow kennt mich, wenn der mich sieht, nimmt er Reißaus.“ 

Auch Thüringens ehemalige Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) kennt den Fall Rudolph. „Mir ist durchaus klar, daß sich die Bürger vertrauensvoll an uns wenden und dann enttäuscht sind, wenn der Politik die Hände gebunden sind.  Aber wir haben heute kein Durchgriffsrecht mehr, wir sind kein SED-Staat. Du mußt Behördenversagen nachweisen, und das ist verdammt schwer.“ 

Lieberknecht war Ministerin, Landtagspräsidentin und Ministerpräsidentin – jetzt ist sie aus der Politik ausgeschieden. Wehmut? „Nein, es war spannend. Ich konnte gestalten und Initiativen starten.“ Und während die Bedienung im Hotel „Kaiserin Augusta“ in Weimar Kaffee und Aprikosenschnitte serviert, sagt sie fast ein bißchen erstaunt: „Ich bin selber ein Stück Geschichte geworden.“

 Im Rückblick auf die Wende kritisiert sie die heutige Berichterstattung. „Es gibt einen medialen Mainstream über den Osten, der durch die 68er Bewegung des Westens geprägt ist. Es darf, so scheint es, keine positive Geschichtsschreibung über dieses Land geben. Und es darf keine Helden geben. Es wäre besser, den Osten in Ruhe zu lassen. Wir haben eben fünf Bundesländer eigener Prägung.“

Jetzt im Wahlkampf hilft Lieberknecht „im niederschwelligen Bereich“. Sie tourt mit ihrem Nachfolger Thomas Gottweiss durch ihren ehemaligen Wahlkreis 31. Gottweiss ist von strategischer Bedeutung, weil sein Gegenkandidat der Ex-SEDler, Ex-CDUler und aktuell parteilose Hans-Helmut Münchberg ist, bis 2018 Landrat des Kreises Weimarer Land. Münchberg ist einer der Sprecher der Initiative „Dialog Jetzt!“. In einem offenen Brief bringt die Initiative die Möglichkeit einer Koalition zwischen CDU und AfD ins Gespräch und ruft AfD-Mitglieder auf, sich von Kräften zu distanzieren, die als rechtsextrem wahrgenommen werden. So macht man sich für einen CDU-Kandidaten landfein, der schon nach der letzten Wahl 2014 das rot-rot-grüne Bündnis mit Hilfe der AfD zu verhindern suchte. Sein aktuelles Wahlversprechen, seit 1990 gezahlte Straßenausbaubeiträge rückwirkend dem Bürger zurückzuzahlen, würde laut Experten 600 Millionen Euro kosten.

Lieberknecht muß zum Bahnhof, ihren Zug nach Apolda bekommen. „Ich hatte 25 Jahre hindurch einen Fahrer, jetzt benutze ich öffentliche Verkehrsmittel, und ich kann sagen, daß Dienstwagen eine andere Welt sind. Ich beobachte und erlebe sehr viel Hilfsbereitschaft – und zwar von Deutschen gegenüber Ausländern. Und ich erlebe das Gefühl, als einzige Frau in einem Waggon mit zwölf Männern zu sitzen. Da lächelt man lieber freundlich. Es wäre für Regierungsmitglieder wirklich gut, immer mal wieder mit dem ÖPNV zu fahren. Man bekommt einen Blick für die Realität.“

Kein Verständnis zwischen Bürger und Politiker

Aus den Fenstern seiner Dachgeschoßwohnung schaut Bernd Zeller über die Dächer von Jena hinweg. Er gehört zur Avantgarde der deutschen Cartoonisten und Satiriker. „Eigentlich würde ich viel lieber etwas über Männer und Frauen, diesen ganzen Beziehungskram machen. Aber mit einem satirischen Blick auf die Politik drängen sich die Themen gradewegs auf.“ In seinem neuen Buch „Die Opportunitäter“ ätzt er gegen Politik und Medien: „Daß man die richtige Meinung hat, erkennt man daran, was passiert, wenn man sie nicht hat.“ Zeller redet so, wie er seine Cartoons betextet: „Nach dem Mauerfall gingen die Leute anders zur Arbeit – das ist aus der Mode gekommen.“ Und dabei läßt er offen, ob er den aufrechten Gang oder das aktuelle Verhältnis zur Erwerbstätigkeit meint.

Zeller studierte im Umbruchjahr 1989 in Jena Medizin. „Ich war nicht aktiv drin, weil ich nicht erwartete, daß es etwas bringt. Die Wende fand also ohne mich statt. Anfang ’90 wollte ich aber keine Umkehr.“ Deshalb gründete er Akrützel. Die Studentenzeitung gibt es noch, Zeller arbeitet allerdings heute für die „Achse des Guten“ und macht das Senioren-Akrützel.    

 „Bürger und Politiker haben keine Ebene, auf der sie sich verstehen“, sagt Zeller. „Schauen Sie sich diesen Werbequatsch an. Die FDP titelt: ‘Gegen den Trend vernünftig’, das haut nicht hin.“ Zum Abschied klingt er fast etwas desillusioniert: „Wir sind in einem Zustand wie zu DDR-Zeiten, der sich selbst verschlimmert.“