© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Pankraz,
Nils Holgersson und der Zug der Kraniche

Dieser Herbst war warm und schön, die Züge der Kraniche lassen auf sich warten. Erst jetzt werden die ersten von ihnen gesichtet. „Seht jene Kraniche in großem Bogen! / Die Wolken, welche ihnen beigegeben, / Zogen mit ihnen, schon als sie entflogen / Aus einem Leben in ein andres Leben ...“ So singen, nach den Versen von Bert Brecht und der Musik von Kurt Weil, die Einwohner der verfluchten Stadt Mahagonny, Halunken und Huren allesamt, die gleichwohl einen Heidenrespekt vor den Kranichen haben und gern mit ihnen in ein „anderes Leben“ fortziehen würden.

Kraniche und Kranichzug lassen eben keinen kalt. Es sind herrliche Tiere, schöner und anmutiger als Adler und Klapperstorch, wohl auch klüger als Elster und Kolkrabe, dazu vornehm und ritterlich, zu unglaublich charmanten Liebestänzen begabt und mit einer Signalsprache ausgestattet, deren riesiges Repertoire von den trillernden Kontaktrufen für die Küken bis zu jenen schallenden Trompetentönen reicht, mit deren Hilfe sich die Vögel zu ihren erhabenen Wanderflügen von und nach den spanischen bzw. balkanischen Winterquartieren zusammenfinden.

Ihr Fliegen inklusive Start und Landung ist von einer Vollkommenheit, die einem schier den Atem verschlägt. Während andere große und vergleichsweise schwere Vögel wie Albatros oder Schwan beim Sicherheben sichtlich Mühe haben und dabei manchmal beinahe komisch wirken, bleibt bei den Kranichen alles souverän, präzise und scheinbar mühelos. Nach einigen wenigen eleganten Schritten heben sie wie von selbst vom Boden ab und fliegen von Anfang an völlig sicher und zielgerichtet.


Es sind Ruderflieger, sie können aber kreisend phantastische Höhen (bis zu 6.000 Metern) gewinnen und dann im Segelflug über weiteste Strecken dahingleiten. Tagesreisen von über tausend Kilometern sind keine Seltenheit. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt, je nach Rückenwind, zwischen 50 und 100 Kilometer pro Stunde. Am liebsten fliegen sie in Keilformation, richten sich aber auch hier nach den jeweiligen Gegebenheiten und wechseln spielend zu Reihen, ungleichschenkligen Winkeln usw. über, je nach Luftwiderstand und Fitneßgrad der einzelnen Fluggenossen.

Auch am Boden ist der praktische und gleichzeitig ungemein soziale Sinn der Kraniche geradezu sprichwörtlich. Es sind ausgesprochene Gemeinschaftstiere, aber jede Formation, die sie bilden, scheint durchlässig und jederzeit optimal anpassungsfähig. Es gibt bei den Kranichen nicht jenes rüde Pascha- und Cliquenwesen, das etwa die Umgangsformen in der Affenherde so peinlich und unansehnlich macht. Man findet sich zusammen und geht wieder auseinander, man begrüßt sich höflich und graziös, schränkt unumgängliche Revierstreitigkeiten auf das Notwendigste ein, bleibt gewissermaßen Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.

Gegen äußere Feinde weiß man sich ohne Panik und mit großer Übersicht zu wehren. Brutpaare greifen Füchse und Wildschweine grundsätzlich an und zeigen dabei neben Mut Vigilanz und tänzerische Grazie. Man startet raffinierte Scheinangriffe und Scheinrückzüge. Läßt sich ein Seeadler am Schlafplatz oder auf der Äsungsfläche sehen, rückt man rasch zu burgähnlichen Verteidigungsgruppen zusammen und richtet die langen Schnäbel wie Speerspitzen gegen den Feind, der daraufhin meistens abdreht. Die meisten Verluste entstehen dadurch, daß Kolkraben oder Füchse in einem unbewachten Moment die Eier aus den Nestern stehlen.

Schönheit und individuelle wie kollektive Klugheit der Kraniche erregten von jeher die Bewunderung der Menschen. Das feinste Kompliment haben ihnen die Franzosen gemacht, deren Wort für edle Abstammung, „Pedigree“, von der Eleganz und Bewegungssicherheit des Kranichfußes (pied de grue) abgeleitet ist. Bei den chinesischen Mandarinen hieß der oberste Beamte „Der Kranich“ und trug das entsprechende Rangabzeichen. Bei den alten Römern stand der Kranich gleich für drei kardinale Überlebensstrategien: Prudentia (Klugheit), Custodia (unermüdliche Fürsorge) und Vigilantia (Wachsamkeit).


Man erzählte sich (und erzählt sich hier und da noch heute), daß der erwachsene Kranich nicht nur – wie andere Schreitvögel – nur auf einem Fuße schläft, sondern daß er in dem anderen stets ein Steinchen hält, dessen eventuelles Herunterfallen (wegen allzu großer Schlaftiefe, wegen sich nähernder ungeklärter Geräusche und dgl.) den Steinchenträger sofort hellwach macht und kräftigste Trompetentöne ausstoßen läßt. Als solcher Steinträger erschien der Kranich im Wappen vieler mittelalterlicher Gemeinden und konnte in Hinblick auf heraldische Häufigkeit ohne weiteres mit dem Adler, dem Stier und dem Löwen konkurrieren.

Verwunderlich bleibt dagegen, daß er in der Literatur, soweit Pankraz sieht, immer eine recht geringe Rolle gespielt hat. Es gibt ein bißchen Märchen- und Sagenkram, vor allem in Skandinavien und Rußland; es gibt die menschfressenden Kraniche bei Homer, die die armen Pygmäen überfallen; es gibt Schillers „Kraniche des Ibykus“ und das schnöde kleine Gedicht von Theodor Fontane über den flügellahmen Kranich, den seine Brüder in den fernen Süden locken, seiner Schwinge aber die Kraft dazu fehlt und ihn die Hühner deswegen auslachen: das war’s dann schon. Selma Lagerlöfs Nils Holgersson ist bekanntlich mit den Wildgänsen unterwegs, nicht mit den Kranichen.

Bei Goethe fühlt sich Faust auf seinem erquickenden Osterspaziergang nach arg verbrachter Nacht „im Gefühl erhoben“, wenn „über Flächen, über Seen / Der Kranich nach der Heimat strebt“. Aber strebt er denn wirklich nach der Heimat? Ist sein gewaltiger Flug von einem Ort zum andern und zurück nicht Symbol für eine ganz andere Konstellation?

Die Leute in Brecht/Weils „Mahagonny“ jedenfalls sehen es so. Für sie ist der Zug der Kraniche eine ewige Wanderschaft ohne Ziel: „So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben / Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. / Wohin ihr? – Nirgend hin. – Von wem davon? – Von allen.“