© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Versunken wie Atlantis
Widerstandsgeist: Ausgewählte Schlüsseltexte der Inneren Emigration / Auftakt zu einer JF-Serie
Günter Scholdt

Etablierte Geschichts- wie Literaturgeschichtsschreibung erweist sich meist schlicht als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. So werden viele Inhalte, Zielsetzungen, Wertungen oder deren Kriterien von aktuellen Herrschafts- beziehungsweise Legitimationsinteressen bestimmt. Denn auch im (nur scheinbar politikfernen) ästhetischen Bereich zeigt sich ein ständiger kultureller Bürgerkrieg, der im Fall der Bundesrepublik spätestens durch den 68er Marsch durch die Institutionen entschieden wurde. Exemplarisch traf dies die Literatur-epoche der Inneren Emigration, deren Vertreter per Hochschulgermanistik und Feuilleton binnen weniger Jahrzehnte vielfach diskreditiert und danach vergessen wurden. 

Unter „Innerer Emigration“ versteht man dabei sinnvollerweise einen zwischen 1933 und 1945 verfaßten Textbestand, der weder Exil- noch NS-Gesinnungsliteratur darstellt, respektive einen Komplex von Autoren, die weder emigriert noch in Kernfragen nazistisch infiziert waren. Hochleistungen erbrachten sie besonders in der Naturlyrik, dem historischen Roman oder literarischen Tagebuch, darüber hinaus durch bestimmte Techniken zeitübergreifend-typologischen Erzählens. Als Schreibstile dominieren die Moderne Klassik, der Magische Realismus und manche Fortschreibung der Neuen Sachlichkeit.

Auch im Exil erkannten Zeitgenossen die Distanz dieser Autorengruppe zu ideologisch-propagandistischen Vorgaben des NS-Regimes vielfach an. Doch im Lauf des Krieges verdüsterte sich das Bild. Und ab 1945 wurde diese Schreib- und Lebenshaltung seitens der Geflüchteten einem massiven Ideologieverdacht ausgesetzt. Am penetrantesten äußert sich dies in Thomas Manns Stellungnahme „Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“ vom 28. September 1945: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.“

Das erregte damals heftigen Widerspruch. Doch je mehr Jüngere in die Redaktionsstuben gelangten, um so massiver nutzten sie diese Art „Vergangenheitsbewältigung“ dazu, sich von den Älteren abzugrenzen und ihren Einfluß zu vergrößern. Dabei wurde den Inneren Emigranten von der (hinsichtlich eigener Verstrickungen vielfach vergeßlichen) Flakhelfer-Generation wechselweise stilistische Antiquiertheit und moralisches Versagen vorgeworfen. Ihren rigorosen Ansprüchen genügte es nicht mehr, daß sich die literarischen Väter und Mütter nazistischen Verlockungen widersetzt hatten, indem sie staatlicher Gleichschaltung mit Rückzug aus dem öffentlichen Raum begegneten. Vielmehr galt solche „Innerlichkeit“ nun zunehmend als systemstabilisierende Flucht. 

Im gleichen Kontext stand Theodor Adornos sarkastischer Ausfall gegen Werner Bergengruen, dem er trotz seiner im Land lebenden jüdischen Ehefrau Amnesie gegenüber dem Holocaust unterstellte. Auch Gedichte zu schreiben sei angesichts von Auschwitz „barbarisch“. Ergänzend erschienen vielgelesene (polemische) Analysen über die „Literatur unterm Hakenkreuz“ von Franz Schonauer (1961) oder Ernst Loewy (1969). Und spätestens mit Ralf Schnells Studie (1976) begann der germanistische Exorzismus. 

Das ließ in Einzelfällen zwar seriösere und differenziertere Betrachtungen zu. Aber insgesamt wurde die Forschungsatmosphäre bald unverkennbar von Empa-thielosigkeit gegenüber den Daheimgebliebenen geprägt. Unpolemische Aufmerksamkeit beschränkte sich nun weitgehend auf Vertreter der Exilliteratur wie Brecht, Thomas, Klaus und Heinrich Mann, Tucholsky, Broch, Döblin, Werfel oder Joseph Roth. Vordergründig scheint das plausibel. Schließlich sind, wenn man Benn oder Ernst Jünger ausnimmt, die Genannten fast die einzigen, die heute überhaupt noch auf Resonanz stoßen. 

Denn Hand aufs Herz, wer – selbst unter heutigen Philologen – liest oder kennt sie noch: die Wiechert, Carossa, Andres, Bergengruen, Kaschnitz, Le Fort, Klepper, Kolmar, Lehmann, Loerke, Langgässer, Britting, Kasack, Reinhold Schneider oder Ricarda Huch, ganz abgesehen von Außenseitern wie Ilse Molzahn, Johannes Moy oder Eugen Gottlob Winkler respektive jene Benn’schen Wanderer zwischen politischen Welten wie Martin Raschke, Ernst von Salomon, Egon Vietta oder Hans Grimm? 

Bereits vor knapp zwei Jahrzehnten konnten von 31 Teilnehmern meines germanistischen Hauptseminars 30 mit Namen wie Emil Barth, René Hocke, Martin Kessel, Jochen Klepper, Horst Lange, Marianne Langewiesche, Wilhelm Lehmann, Gerhard Nebel, Ernst Penzoldt, Ernst Schnabel oder August Scholtis überhaupt nichts anfangen, 29 nichts mit Albrecht Haushofer, Hans Henny Jahnn, Friedrich Georg Jünger, Edzard Schaper, Günther Weisenborn, Wilhelm Weyrauch oder Georg von der Vring, 28 nichts mit Peter Bamm, Otto Flake, Hermann Kasack, Erik Reger oder Rudolf Alexander Schröder – alles Namen, die seinerzeit Klang und ein meist beträchtliches Publikum hatten. 

Aber belegt ihre aktuelle Vergessenheit nicht schlagend, daß offenbar nur Ausgewanderte die Freiheit und ästhetische Souveränität besaßen, achtbare, noch heute bewegende Belletristik zu schreiben? Beweist dies nicht, daß die emigrierte Literaturprominenz praktisch die einzig würdige Repräsentanz jener Literaturepoche darstellt?

Das wäre der Fall, hätten nicht die Vertreter dieser Überzeugung die Beurteilungsbasis durch  – vornehmlich an Schreibvoraussetzungen des Exils orientierte – Kriterien oder tendenziöse Kompendien derart beeinflußt, daß eine faire Überprüfung kaum noch möglich ist. Denn wo sind Bibliographien, Nachschlagewerke oder Literaturgeschichten, in denen wir angemessen ausführlich und ohne moralistische Vorauszensur etwas über die diskreditierte Autorengruppe erfahren könnten? Zudem sorgten ausgedünnte Verlagsprogramme und die weitgehende Verramschung öffentlicher Bibliotheksbestände dafür, daß jene Epoche für heutige Leser aus schlichtem Informationsmangel nur noch unzulänglich rekonstruierbar ist.

Bedeutsame Texte, die die Lebendigkeit und Variationsbreite jener Epoche illustrieren wie Vegesacks „Die baltische Tragödie“, Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“, Langes „Leuchtkugeln“, Hartlaubs „Im Sperrkreis“, Benns „Weinhaus Wolf“, Jahnns „Das Holzschiff“, Bergengruens „Der Tod von Reval“, Maass’ „Das Testament“, Gurks „Tresoreinbruch“, Weisenborns „Die Furie“ oder Leips „Das Muschelhorn“ sind dem Gedächtnis weitgehend entschwunden. Desgleichen die meisten Namen und Titel aus dem ungemein fruchtbaren Genre historischen Erzählens, von Paul Gurk, Peter Stühlen, Emil Belzner und Rudolf Brunngraber über Edzard Schaper, Arnold Ulitz und Olaf Saile bis Norbert Jacques, Fritz Reck-Malleczewen oder Marianne Langewiesche. 

Klassische Exempel des Magischen Realismus wie Horst Langes „Ulanenpatrouille“, Ernst Schnabels „Schiffe und Meere“, Ernst Jüngers „Abenteuerliches Herz. 2. Fassung“, Elisabeth Langgässers „Der Gang durchs Ried“ usw. gelten mittlerweile als Geheimtips. Kollegen, mit denen man sich, durch Lektüre substantiiert, darüber austauschen könnte, lassen sich an zwei Händen abzählen. Welches Theater spielt noch Hauptmanns „Atriden“-Tetralogie? 

Ist das erwähnens- oder erregenswert? Gilt nicht gleichermaßen für andere Zeiten, daß Kulturleistungen ständig vergessen werden, um Platz für Neues zu schaffen? Allerdings findet sich so leicht kein zweiter Fall, wo ein ganzer Literaturkomplex so gezielt in den Orkus des Vergessens geschleudert wurde. Versunken wie Atlantis, nur nicht so ruhmreich der Erinnerung Nachgeborener würdig, sondern eher im Sinn einer vom Mainstream gewünschten kulturhygienischen Entsorgung. Dem entsprechen alle gängigen Lexika, und nicht zuletzt die Grundstimmung unter heutigen Germanisten einem wenig prestigeträchtigen Forschungsobjekt gegenüber. Und das Feuilleton kennzeichnen allenfalls gönnerhafte Gesten wie seinerzeit diejenige Reich-Ranickis, der den von ihm geschätzten Erich Kästner zum „Exilschriftsteller honoris causa“ erklärte. 

Die in den nächsten Wochen in dieser Zeitung folgende exemplarische Erinnerung an zumindest einige Werke der Daheimgebliebenen versteht sich daher als Akt der Wiedergutmachung. Sie wird getragen vom Bewußtsein literarhistorischer Verluste, die ein rigoroser Kulturkampf angerichtet hat, und der Provokation einer nahezu institutionellen philologischen Selbstgerechtigkeit. Sie betrifft heute leitende Beurteilungskriterien, mit der meinungsprägende Pharisäer vom sicheren Schreibtisch aus ihren Vorgängern von 1933/45 einen fast märtyrerhaften Widerstandsgeist verordnen. Dies wiederum geschieht ausgerechnet durch eine Intelligenzija, die durch anti-alternative Denunziation zu den konformistischsten seit Jahrhunderten zählt, weil sie vielfach nur karrierebedingt ohne Gefahr für Leib und Leben erfolgt.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, Historiker und Germanist, war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß.