© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die nächtliche Taxifahrt zum Hauptbahnhof endet mit dem resignativen Fazit des Fahrers, der kurz vor der Rente steht: „Der deutsche Taxifahrer stirbt aus.“ Kaum draußen, sind da bereits die ersten Kulturbereicherer – vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein, so wie diese Dystopie: Statt der hier traditionell startenden „Merkel muß weg“-Demonstrationen eine multikulturelle Manifestation „der Vielfalt“, dem Zeitgeist Tribut zollend mit dem adaptierten Schlachtruf von 1989: „Wir sind kein Volk!“ Dann erübrigte sich auch die Frage, ob der Reichstag den „Reichsbürgern“ oder der „Bevölkerung“ gehört, denn ohne solche Wort- und Begriffsspiele ist die Wirklichkeit ja nicht mehr zu bewältigen. 


Die Welt der Imagination nimmt auch kein Ende. So spreche ich im Café der Sowjetzone den Betreiber wieder mit „Strastwutje Towarischtsch“ an, der entgegnet: „Strastwutje Graschdanin – aus dem Gefängnis, ja?!“ Darauf ich: „Das Großraumgefängnis existiert doch seit 1989 nicht mehr.“ Worauf er mich kopfschüttelnd belehrt: „Das ist Illusion – das ist nur deine Vorstellungskraft.“ Diese zeichnet auch den Künstler aus, der – einst an derselben Schule wie Meuthen – diesen gern geteert und gefedert sähe, und aktuell wünscht: „Aber Höcke könnte schon ’n Autounfall haben, ’n Schaden hat er ja schon.“ Immer wieder ziehe ich in solchen Situationen das „Fassungs-Los“. Fast filmreif Tage später die Szene an gleicher Stelle, da mein Blick auf das SZ-Interview mit John le Carré fällt, dem einstigen Agenten und Bestseller-Autor von Spionage-Romanen. So weist die Kundin, die gerade den Laden verläßt, den Betreiber zurecht: „Der Herr da draußen hätte gern noch einen Amerikaner.“ Darauf der Wirt: „Hat der keine Beine?“ Schließlich verabschieden sich Künstler und Gastwirt von mir an der Tür mit erhobener Faust und der Losung „Rot Front!“– in Erwartung, ich erwiderte diese dümmliche Provokation mit dem „deutschen Gruß“ oder vielmehr mit dem Wissen, daß ich dies nie wagen werde. Nicht nur, daß ich es absurd fände, selbst wenn ich wollte: Meine Arme sind – nicht zuletzt wegen Paragraph 86a StGB – wie von selbst gelähmt. Das wäre jetzt ein Fall für Foucaults Theorem vom „Dispositiv“, dem Dispo der linken Diskurstheoretiker. So trägt der jüngst aus dem Nachlaß veröffentlichte letzte Band Foucaults aus dessen Werkreihe „Sexualität und Wahrheit“ den Titel: „Geständnisse des Fleisches.“ Immerhin: Die so bildschönen wie blutjungen Abiturientinnen hinter dem Tresen stützen die Gewißheit von der Auferstehung des Fleisches.