© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Weglassen, was überflüssig ist
Nutzerdefiniertes Wohnen à la DDR: Eine Ausstellung des Dresdener Kunstgewerbemuseums würdigt den 90jährigen Formgestalter Rudolf Horn
Paul Leonhard

Hochwertige Kristallüster, detailverliebte chinesische Ausmalungen, riesige, raumhohe Spiegel, Plüsch und inmitten all der barocken Pracht im Festsaal des Bergpalais nüchterne Geometrie. Irgendwie wirkt die Ausstellung „Rudolf Horn. Wohnen als offenes System“ hier deplaziert. Aber das Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hat nun einmal im einstigen Lustschloß Augusts des Starken in Dresden-Pillnitz an der Elbe seinen Sitz. Dabei gibt es kaum eine größere Diskrepanz als zwischen dem verschwenderischen Kunstsinn der Wettiner und dem industriellen Wohnungsbauprogramm der Sozialistischen Einheitspartei.

Setzten die Bauarbeiter die Sechs- und Achtgeschosser aus in Betonwerken vorgefertigten Platten zusammen, so bauten anschließend deren Mieter die Inneneinrichtung, so sie über das dafür notwendige handwerkliche Geschick verfügten, aus Spanholzplatten zusammen. Besonders begehrt waren die Schrankwände aus Hellerau. In der Gartenstadt im Dresdner Norden residieren noch heute die 1898 von Karl Schmidt gegründeten Deutschen Werkstätten. Sie sind genaugenommen die Urzelle des späteren Bauhauses, denn hier entstand vor dem Ersten Weltkrieg die Idee für den Deutschen Werkbund, dessen Ideal der Einheit von Arbeit und Kunst Walter Gropius später umsetzt. 

Zu DDR-Zeiten wurden in Hellerau Möbel für den gesamten Arbeiter- und Bauernstaat produziert, genauer gesagt das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW), ein variantenreiches Möbelsystem zum Selbstzusammenbauen. Dieses verkörperte die Ideale des Traditionsunternehmens der Avantgarde: Modernität, sozialen Anspruch und sehr viele innovative Elemente in Design und Technik, sogar Nachhaltigkeit, denn die Möbelplatten bestanden aus verpreßtem Sägemehl und Holzspänen. Überdies waren die Möbel, die in Großserie auf Taktstraßen gebaut wurden, international konkurrenzfähig.

Baukastensystem aus Spanholzplatten

Entworfen hatte das Möbelsystem der aus Waldheim stammende Formgestalter Rudolf Horn, den die Staatlichen Kunstsammlungen anläßlich seines 90. Geburtstages mit dieser Sonderausstellung ehren.

1967 präsentierte Horn als Leiter des Büros für Entwicklung, Messen und Werbung der Möbelindustrie das von ihm und Eberhard Wüstner entwickelte Möbel-Baukastensystem aus Spanplatten mit Frontfurnier aus Mahagoni auf der Leipziger Messe erstmalig der Staatsführung. Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht, wie Horn gelernter Tischler, zeigte sich wenig angetan: „Ich sehe hier keine Möbel, ich sehe nur Bretter“, soll er in breitem Sächsisch genuschelt haben. In Serie ging der „Bretterhaufen“ trotzdem, wurde bis zum Untergang des SED-Staates gefertigt und ist damit das am längsten in Europa gefertigte Montagemöbelprogramm. 

„Die Wand sollte nicht als fertiges Möbel, sondern als funktionaler Baukasten den individuellen Bedürfnissen des Nutzers zur Verfügung stehen“, beschreibt Horn sein Anliegen. Im Zentrum seines Denkens habe dabei immer die Frage gestanden: „Für wen machst du das?“ Seinen Studenten diktierte Horn als Direktor des Instituts für Möbel- und Ausbaugestaltung an der Hochschule für Kunst und Design Halle, wo er von 1966 bis 1997 unterrichtete, Sätze wie diesen: „Der Nutzer als Finalist industrieller Produkte wandelt die Anonymität des Industrieerzeugnisses in ein individuelles Gebrauchsobjekt mit individuellem Gestaltwert um.“

Was der Formgestalter Horn mit „Variabilität“ und „Freiheit für den Nutzer“ als seine Prämissen beschreibt, kam bei den Nutzern gut an. Die konnten sich in speziellen Schauräumen in den großen Städten die Bauteile anschauen und sich bei der Zusammenstellung der einzelnen Bauteile beraten lassen. Mit der MDW-Serie hatte die DDR ihr volkseigenes Ikea-System geschaffen. Denn einerseits kamen auch Sitzgarnituren, Lampen, Sessel und anderes dazu, andererseits war Horns Einrichtungsprinzip, das er bis heute in seiner Altbauwohnung am Coppiplatz in Leipzig selbst vorlebt, die richtige Empfehlung für die genormten Plattenwohnungen: „Alles weglassen, was überflüssig ist, dann bleibt übrig, was nützlich ist.“ Am gefragtesten waren die Schrankwände, in denen sich alles verstauen ließ. 

Er habe immer die fertig eingerichteten Wohnungen fotografieren lassen, „um zu sehen, was machen die Leute denn da mit dem, was ich mir ausgedacht hatte“, erinnert sich Horn: „Und das war wunderbar, ich wäre nie auf diese Gedanken gekommen.“ Die Menschen hätten besser als er gewußt, was sie benötigen. Der Handel sei sein Gegner gewesen. Und die Planwirtschaft. 

Modellwohnungen ohne Innenwände

 Horn wollte diese Variabilität auch auf den Wohnungsbau selbst übertragen. 1969 präsentierte er auf der Leipziger Messe zwei innenwandfreie, komplett eingerichtete Modellwohnungen, woraufhin er die Möglichkeit bekam, sein „nutzerdefiniertes Wohnen“ in einem Experimentalbau in Rostock zu testen. Das Projekt scheiterte jedoch letztlich an den knappen Ressourcen der DDR-Bauwirtschaft und der starren sozialistischen Planwirtschaft. 

Die Ausstellung zeigt neben Originalmöbeln auch historische Werbefotos, Zeichnungen und Entwürfe. Ein Fokus wird dabei auf die Arbeiten des Hellerauer Fotografen Friedrich Weimer gelegt, der die funktionale Ästhetik der Möbel und Innenräume perfekt in Szene setzte. Horns Verhältnis zur klassischen Moderne, das einen seiner Höhepunkte in der Neuinterpretation des „Barcelona-Chairs“ von Mies van der Rohe fand, wird ebenfalls thematisiert. So schließt sich der Kreis von 1968 bis heute, denn der 1966 entworfene Stuhl wird in diesem Jahr neu aufgelegt und von den Deutschen Werkstätten Lebensräume exklusiv vertrieben.

Und wer nach einem Rundgang selbst Lust verspürt, ein Raumkonzept anzulegen, kann das in einer Art interaktivem Wohnlabor im Eingangsbereich tun. Außerdem sucht das Kunstgewerbemuseum Geschichten und Erinnerungen zu den Möbeln aus Hellerau, je detailreicher und persönlicher, desto besser. Auch Fotos sind willkommen.

Die Ausstellung zu Rudolf Horn ist noch bis zum 3. November im Dresdner Schloß Pillnitz, August-Böckstiegel-Straße 2, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Tel.: 03 51 / 49 14 20 00

Vom 24. November 2019 bis 22. März 2020 wird die Ausstellung im Deutschen Stuhlbaumuseum Rabenau gezeigt.

 www.skd.museum