© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Zivilisationen im Herbst
Intelligenzforschung: Zwei britische Biologen über den genetisch bedingten Intelligenzrückgang seit 1800
Martin Hans

Wir werden weniger intelligent und verlieren etwa drei IQ-Punkte pro Generation – das ist die zentrale Aussage des Buchs „At Our Wit’s End“. Die Ursache sei laut den Autoren Edward Dutton und Michael Woodley of Menie, daß intelligente Menschen seit der Industriellen Revolution eine niedrigere Fruchtbarkeit hätten als weniger intelligente. Da Intelligenz zu etwa achtzig Prozent vererbbar sei, wie Studien mit adoptierten Kindern und eineiigen Zwillingen zeigten, falle die mittlere Intelligenz von Generation zu Generation. Diese Entwicklung bezeichnet die Forschung auch als „Woodley-Effekt“, nach einem der Autoren des Buchs.

Die britischen Intelligenzforscher Woodley und Dutton haben ein faktenreiches und fußnotengesättigtes Einsteigerwerk geschrieben, das auch originäre Gedanken enthält. Vor der Industriellen Revolution hätten in Nordeuropa die reicheren fünfzig Prozent mehr Kinder geboren als die ärmeren fünfzig Prozent. Da sozialer Status und Einkommen in starker Beziehung zur Intelligenz stünden, seien die Menschen von Generation zu Generation intelligenter geworden. 

Bei Anbruch der Industriellen Revolution wendete sich das Blatt. Starben zuvor etwa ein Drittel aller Babys kurz nach ihrer Geburt, vor allem Kinder mit niedrigem sozialen Status, sank nun die Kindersterblichkeit ständig, bis heute auf nahe null. Zudem wurden zu Anfang des 19. Jahrhunderts sexuelle Verhütungsmethoden wiederentdeckt, die vor allem von der Oberschicht genutzt wurden. Selbst heutzutage verhüten die Klugen effektiver, wie Dutton und Woodley feststellen: „Eine intelligente Frau wird den Beipackzettel zur Pille genau lesen und verstehen, daß die Pille jeden Tag zur gleichen Zeit eingenommen werden muß; eine weniger intelligente Frau nicht.“

Die Autoren scheuen sich auch nicht, die Massenmigration als Ursache des Intelligenzschwunds zu nennen. Nichteuropäer bekämen in Europa für gewöhnlich mehr Kinder als Europäer. So habe im Jahr 2000 die Geburtenrate der Europäer bei 1,9 in Frankreich gelegen, Frauen von anderen Kontinenten gebaren dagegen im Schnitt 2,8 Kinder, ähnlich in den Niederlanden (1,7 zu 2,5) und Schweden (1,5 zu 2,3).

Mehr Sozialleistungen erhöhen die Geburtenrate

Durch den Feminismus investierten intelligente Frauen mehr Lebenszeit in Bildung und verschoben die Familiengründung bis weit in ihr viertes Lebensjahrzehnt. Weniger intelligente Frauen gebaren bereits mit zwanzig ihre ersten Kinder. Auch der Wohlfahrtsstaat wirke intelligenzmindernd, denn er verleite Sozialhilfeempfänger dazu, mehr Kinder zu bekommen. Bereits 2016 publizierte der Brite Adam Perkins eine Studie, laut der ein dreiprozentiger Anstieg der Sozialleistungen die Geburtenrate der Hilfeempfänger um ein Prozent erhöhe. In Interviews mit dem Neurobiologen des renommierten King’s College bestätigen die Leistungsbezieher, daß sie aufgrund der höheren Sozialhilfe aufgehört hätten, zu verhüten. 

Kurioserweise, und im scheinbaren Widerspruch zu Duttons und Woodleys These, schneiden wir seit den dreißiger Jahren besser in IQ-Tests ab. Die Forschung spricht vom sogenannten Flynn-Effekt. Dieser reflektiere aber keinen genetischen Anstieg der Intelligenz, sondern bessere Umweltbedingungen bei Ernährung und Bildung, argumentieren Dutton und Woodley. Wir hätten uns durch verstärkte Bildung in wenigen Teilen der IQ-Tests verbessert, allerdings nicht bei den Aufgaben, die den generellen Intelligenzfaktor g exakter messen würden. Denn g sinke seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Psychologen vermuten eine allgemeine Größe der kognitiven Leistungsfähigkeit namens g, da Personen, die zum Beispiel in einem mathematisch-analytischen Test gut abschneiden, auch in verbalen oder räumlich-visuellen Tests hohe Ergebnisse erzielen. Als Faustregel gilt: Je kognitiv anspruchsvoller eine Aufgabe, desto besser mißt sie g.

Da IQ-Tests das Sinken von g verschleierten, ziehen die Autoren alternative Maße wie Reaktionszeiten, Farbdiskriminierung oder Vokabulargröße heran. So veröffentlichte Woodley 2012 eine Studie, laut der die Reaktionszeiten zwischen 1885 und 2004 um einen IQ-Punkt pro Dekade zurückgegangen seien. Weil schlaue Menschen feinere Unterschiede wahrnehmen, nutzen Psychologen außerdem Farbdiskriminierungstests. Teilnehmer müssen über achtzig Farbtöne zwischen zwei Extremen wie Grün und Blau anordnen.

Vier Studien fanden zwischen 1980 und 2000 heraus, daß die Probanden viel schlechter zwischen Farbtönen unterscheiden konnten. Umgerechnet entsprach dies einem Rückgang von 3,15 IQ-Punkten in dreißig Jahren. Auch unser Vokabular werde kleiner. Woodley untersuchte das Google-Textarchiv, das Millionen digitalisierter Texte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart enthält. Ergebnis: Anfang des 19. Jahrhunderts nutzten wir die meisten schwierigen und spezifischen Wörter, die in dem Test Wordsum gelistet sind und ein gutes Maß für g darstellen.

Kognitive Leistungsfähigkeit beeinflußt Zivilisationsgrad

Dutton und Woodley finden auch Bestätigung für Oswald Spenglers Geschichtsphilosophie. Solange g steige, befinde sich eine Zivilisation im Frühling oder Sommer; Kunst und Kultur erblühten und ihr Wohlstand steige stetig an. Sei die natürliche Darwinsche Selektion ausgesetzt, durch ein Sinken der Kindersterblichkeit und sexuelle Verhütung, trete eine Zivilisation in ihren Herbst oder Winter ein. Im späten Römischen Reich sei dieser Niedergang ebenso zu beobachten wie heutzutage auf dem gesamten Globus, selbst in aufstrebenden Staaten wie China oder Indien. Lösungen seien unter anderem die Rückkehr zur Religion, ein säkularer Traditionalismus, staatliche Maßnahmen zur Geburtenkontrolle oder die Förderung von Genies. 

Dutton und Woodley sind jedoch skeptisch, daß ein dunkles Zeitalter wie im frühen Mittelalter auf lange Sicht zu verhindern sei. Einzig gute Nachricht: Auf mittlere Frist werde die Bevölkerung bei sinkendem g ethnozentrischer und religiöser sein, was konservativen Bewegungen Auftrieb verschaffen dürfte. Möglich sei dann eine Ära der „zweiten Religiosität“, wie sie Oswald Spengler prognostizierte.

Edward Dutton, Michael A. Wood-ley of Menie: At our Wit’s End. Why We‘re Becoming Less Intelligent and What It Means for the Future. Societas, London 2018, broschiert, 204 Seiten, 23,98 Euro