© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/19 / 25. Oktober 2019

Zur „Wehrlosigkeit“ gegenüber NS-Unrecht
Gustav Radbruch und Carl Schmitt: ein rechtsphilosophischer Theorienvergleich / Dritter Teil der JF-Serie
Björn Schumacher

Diametral verschieden wurden Gustav Radbruch und Carl Schmitt nach dem Ende der NS-Herrschaft wahrgenommen. Während Schmitt als „Reichswortführer im Land des offen zutage liegenden Zivilisationsbruchs“ (Jürgen Habermas) ein Verfemter war, wandte sich der umgehend rehabilitierte Radbruch dem Großprojekt juristischer Vergangenheitsbewältigung zu. Im Zentrum steht die „Radbruchsche Formel“ von 1946, ein vor allem auf Richter und andere Rechtsanwender zugeschnittener Extrakt einer neuen Rechtsgeltungslehre.

Seinen 1932 dominanten Wertrelativismus schwächt der Heidelberger Rechtslehrer spürbar ab. Hatte er damals nur angedeutet, daß es „Schandgesetze“ geben könne, denen das Gewissen [des einfachen Rechtsgenossen] den Gehorsam verweigert, so wetteifert jetzt eine um elementare Menschenrechte ergänzte Gerechtigkeit mit der Rechtssicherheit: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‘unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“

Bei näherer Betrachtung offenbaren sich Vagheiten. Welche Ungerechtigkeiten sind noch tolerabel, wo genau beginnt die Unerträglichkeit? Auch hätte Radbruch statt der blassen Wendung „Unrichtiges Recht“ den von ihm entwickelten, scharfkantigen Begriff „Gesetzliches Unrecht“ verwenden sollen. Der Popularität seines neuen Ansatzes schadete das nicht. Schon der Aufsatz „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ (1945) war ein Fanal. Übertroffen wurde er noch von „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (1946), einem der meistgelesenen Texte der Rechtsphilosophie. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht nutzten die Radbruchsche Formel als Werkzeug, um nationalsozialistischen Unrechtsnormen und später auch dem DDR-„Schießbefehl“ den Rechtscharakter abzusprechen. Einer rückwirkenden Aufhebung dieser „Schandgesetze“ durch neues positives Recht bedurfte es nicht mehr.

Für Schmitt herrscht eine „Tyrannei der Werte“

Zudem kommt hier erneut die Grundnorm ins Spiel. Der hinter Radbruchs Geltungslehre von 1946 stehende rechts- und staatsethische Imperativ hat etwa folgende Gestalt: Handle gemäß der Verfassung und den aufgrund der Verfassung gesetzten und mit ihr in Einklang stehenden Normen, sofern diese nicht unerträglich ungerecht sind. Sie müssen vor allem die elementaren Menschen- und Bürgerrechte garantieren (Grundnormtyp „Locke-Radbruch“).

Eine explizite Stellungnahme Schmitts zur Radbruch-Formel unterblieb. Allerdings belegen nicht nur ironische Appelle („Auf in den Kampf für Menschenrechte“), daß ein Menschenrechtsvorbehalt mit Schmitts Idee von Rechtsgeltung kaum kompatibel wäre. Zwar erhebt sich über seinen Lehren ein ausgedehntes, die rechts- und staatsphilosophische Einordnung erschwerendes „Interpretationsgebirge“ (Ralf Dreier). Dennoch läßt sich folgern, daß Schmitt nach 1945 als Anwalt von Nationalstaat und Demokratie, Radbruch dagegen als Galionsfigur des Rechtstaats und der durch ihn verbürgten Menschenrechte auftrat. Während Schmitt die „Tyrannei der Werte“ (1960) beklagte und staatsrechtliche Grundsatzdebatten zum Spannungsverhältnis Pluralismus/Homogenität und zur „streitbaren Demokratie“ anstieß, optierte Radbruch für einen scharfkantigen Liberalismus, der die Volksherrschaft zur Dienerin des Rechtsstaats degradiert: „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern“ (1946).

Festzuhalten bleibt aber, daß beide Rechtsdenker – bei allen weltanschaulichen Gegensätzen – vor 1933 eine markante Gemeinsamkeit hatten: den inhaltlichen Rückgriff auf Hobbes. Radbruch verortete diese Rechtsgeltungslehre später (indirekt) als positivistisch. Dem liegt ein heute kaum vertretener, weiter Begriff des Rechtspositivismus zugrunde, der auf den unbedingten Gehorsam (zumindest des Richters) gegenüber dem positiven Recht abstellt.

Die Pointe liegt in der damit verknüpften Wehrlosigkeitsthese. „Der Positivismus“, so Radbruch 1946, „hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‘Gesetz ist Gesetz’ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.“

Radbruch klagt  verdeckt sich selbst an

Was meinte er damit? Ganz sicher nicht, daß der Rechtspositivismus eine Teilursache nationalsozialistischer Machtergreifung war (Verursachungsthese). Heftig umstritten ist auch die Stabilisierungsthese, wonach positivistische Richter und Rechtslehrer zur Festigung der NS-Herrschaft beigetragen hätten. Der Wahrheit am nächsten kommt die psychologisierende „Entlastungsthese“ (Stanley Paulson). Ein starkes „caritatives Bedürfnis“ und Solidarität mit „nazi-belasteten Kollegen“ hätten Radbruch bewogen, die Schuld für antisemitische Exzesse deutscher Juristen im Positivismus zu suchen (Ingo Müller, „Furchtbare Juristen“).

Kehrseite dieser Entlastung war die verdeckte Selbstanklage; denn ein plötzlich den positivistischen Vorreiter der Weimarer Republik verkörpernder Radbruch mußte automatisch in den Verdacht geraten, Stichwortgeber für positivistisch motivierte NS-Verstrickungen seiner Kollegen zu sein. Offenbar nahm Radbruch das in Kauf, um dem ins alliierte Fadenkreuz geratenen Carl Schmitt beizustehen – ein wahrhaft hingabevolles „sacrificium intellectus“.

Schmitt ließ sich die Steilvorlage nicht entgehen und bekundete seinerseits Nähe zum (angeblichen) Radbruch-Positivismus: „Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 begann für mich als positiven Juristen eine völlig neue Situation. (…) Nun bin ich selber kein Positivist im Sinne dessen, was Kelsen unter Wissenschaftlichkeit versteht; aber andererseits gibt es auch kein anderes als das positive Recht.“ Zehn Jahre nach dessen Tod rühmte er Radbruch als herausragenden Juristen: „Die allgemeine Wertneutralisierung … machte aus der Demokratie die Weltanschauung eines grundsätzlichen Relativismus. Rechtsphilosophisch fand das seinen Ausdruck in dem führenden Lehrbuch der Rechtsphilosophie von Gustav Radbruch, dessen 3. Auflage 1932 verkündete: ‘Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist.’ Das also war die maßgebende Rechtslehre, die ein führender Jurist, der unter der Weimarer Verfassung Reichsjustizminister gewesen war, mit aller Autorität vertrat“ (1958).






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Mit diesem dritten Teil endet die JF-Serie.