Das alte Parteiensystem der Bundesrepublik hat in Thüringen am vergangenen Sonntag dramatisch Schiffbruch erlitten. Noch nie haben bei einer Wahl in Land oder Bund Union, SPD, FDP und Grüne keine Mehrheit errungen. Und noch nie zuvor gelang es den SED-Erben, der Linken, in einem Bundesland stärkste Partei zu werden. Doch nicht diese Tatsache löste Schockwellen aus – allein die massiven Zugewinne der AfD erregten die Gemüter. Nach Sachsen (27,5 Prozent) und Brandenburg (23,5 Prozent) setzt sich die junge Partei auch in Thüringen mit 23,4 Prozent fest. Die CDU – lange Jahre stärkste Partei – wurde auf den dritten Rang verwiesen.
Wie kann es nur sein, daß jeder vierte Wähler im Osten AfD wählt, raufen sich viele Leitartikler die Haare. An DDR-nostalgischen und abgehängten Rentnern kann es nicht liegen – in dieser Altersgruppe schnitt die AfD am schlechtesten ab. Am stärksten wurde sie von berufstätigen, mitten im Leben stehenden Bürgern gewählt, der Soziologe Alexander Yendell stellt im Spiegel fest: „AfD-Wählern geht es wirtschaftlich gut.“
Was ist dann der Grund für die Erdrutschsiege? Der eigentliche Mühlstein, der die CDU in den Abgrund zieht, ist Angela Merkel und ihre Migrationspolitik. Seit der Entscheidung von 2015, die Grenzen dauerhaft unkontrolliert für illegale Massenmigration zu öffnen, erodiert die Zustimmung für die Union unaufhaltsam.
Daß die AfD im Osten stärker als im Westen abschneidet, hat übrigens auch viel damit zu tun, daß die etablierten Parteien aus Westdeutschland 1990 dort wie Ufos landeten und bis heute nur schwache Wurzeln getrieben haben. Sie blieben in Sprache und Personal oft Fremdkörper.
Mit den jüngsten Wahlen ist auch das vom Konrad-Adenauer-Haus lange für unschlagbar gehaltene Konzept der „asymmetrischen Demobilisierung“ endgültig gescheitert. Linke politische Gegner sollten an einem kontroversen Wahlkampf gehindert werden, indem die CDU polarisierende Positionen präventiv abschliff, zentrale Grundsätze über Bord warf. Dies geschah bei der Energiewende, dem Ausstieg aus der Kernenergie, Klimapolitik, bei der Wehrpflicht, Homo-Ehe, Gender-Politik und zum Schluß am verheerendsten in der Migrationsfrage. Das Abräumen letzter konservativer Positionen ging jedoch nur so lange gut, wie keine Partei rechts der Union erfolgreich dieses Vakuum füllte und CDU und CSU „alternativlos“ zu sein schienen.
Doch mit der EU-Verträge brechenden Euro-Rettungspolitik öffnete Merkel die Büchse der Pandora – die AfD wurde geboren. Seitdem ist die CDU in eine Zangenbewegung geraten, zwischen linken Parteien auf der einen (Grüne im Westen, Linkspartei im Osten) und der AfD auf der anderen Seite, die viele aufgegebene Positionen der Union besetzt.
Die CDU hat den Moment verpaßt, in dem sie sich von der Hypothek Merkels überzeugend befreien konnte. Der ewige Hoffnungsträger der Unions-Konservativen, Friedrich Merz, verschärft zwar jetzt den Ton und spricht von einem „großen Mißtrauensvotum“ gegen die Große Koalition bei der Thüringenwahl. Merkel stehe „im Mittelpunkt der Kritik“. Die „Untätigkeit und mangelnde Führung der Bundeskanzlerin“ habe sich wie ein „Nebelteppich“ auf das Land gelegt.
Doch warum sind Merkels grummelnde Kritiker in der CDU selbst so führungsschwach und wird der nächste Kanzlerkandidat eben doch mutmaßlich doch wohl eher Armin Laschet oder Annegret Kramp-Karrenbauer als Friedrich Merz heißen? Weil Merz und die seinen keine wirklich alternative Machtoption jenseits von Dauer-Groko oder Schwarz-Grün zu bieten haben.
Als Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) vor einem Jahr forderte, man müsse sich im Osten für Koalitionen mit der Linkspartei „öffnen“ und „pragmatisch“ mit den Postkommunisten umgehen, flog er nicht aus der Partei, sondern erhielt medial allseits Schulterklopfen, wurde er – höchstes Lob in der CDU – als „Modernisierer“ und mutiger „Tabubrecher“ geadelt. Wenn ein Christdemokrat jedoch auch nur ansatzweise Gedankenspiele über Gespräche mit der AfD anstellt, wird er umgehend zum Paria und kann sich schon mal nach einem neuen Job umsehen.
Die Machtoption, die tatsächlich im Raum steht, nennt nun der Grüne Jürgen Trittin beim Namen: „Der Aufstieg der AfD hat die Mehrheitsverhältnisse verschoben. Rechnet man die Ergebnisse von CDU, FDP und AfD zusammen, ergibt das fast überall Mehrheiten rechts der Mitte.“
Doch die CDU befindet sich selbstgewählt in einer linken Falle. Sie hat es schon lange aufgegeben, die metapolitische linke Hegemonie in Frage zu stellen. Sie sieht sich als Teil eines bürgerlichen Milieus, das seinen Frieden mit den Achtundsechzigern gemacht hat.
Mehrheiten unter Einschluß der AfD ins Auge zu fassen, bedeutete nichts weniger als in einen Kulturkampf einzutreten. Jeder CDU-Politiker weiß, daß er dann die etablierten Medien, die „gesellschaftlich relevanten Gruppen“, Kirchen, Arbeitgeber, Gewerkschaften gegen sich hat. Daß diese politisch-mediale Klasse hingegen mit Bodo Ramelow kein Problem hat, der die DDR nicht „Unrechtsstaat“ nennen will und dessen Partei zahllose Verbindungen in den organisierten Linksextremismus pflegt, sagt alles.
Wenn die AfD ihrerseits in die Nähe politischer Macht kommen will, dann darf sie sich nicht in der bequemen Nische einer „Lega Ost“ einrichten. Im Bund werden Wahlen im Westen gewonnen. Sie muß der Stigmatisierung als angeblich rechtsradikale Partei entgegenwirken – und darf hierfür nicht selbst ständig Anlässe bieten. Ob die AfD willens ist, wieder stärker in die Mitte zu integrieren und die Blockade zu durchbrechen, die gegen sie errichtet werden konnte, wird sich schon beim kommenden Bundesparteitag Ende November in Braunschweig zeigen.