Die Geldpolitik der EZB ist überdeterminiert; sie soll zwei Herren dienen. Ihr geldpolitisches Mandat lautet, Preisstabilität zu gewährleisten. Seit dem 26. Juli 2012 ist ein zweites hinzugekommen. An diesem Tag hat der damalige Präsident der EZB, Mario Draghi, den Zusammenhalt der Eurozone um jeden Preis verkündet. „Whatever it takes“, lautet sein Wort, das Geschichte gemacht hat. Damit es auch der letzte versteht, hat er hinzugefügt: „Und glaubt mir, es wird reichen.“
Da wußten alle, daß sie nicht so schnell Anleihen überschuldeter Euro-Staaten loswerden könnten, wie Draghi Geld drucken würde, um sie aufzukaufen. Dieses Vorhaben hat das Bundesverfassungsgericht als einen „Ultra vires-Akt“ eingeordnet, also eine Entscheidung, die über das eigentliche Mandat der EZB hinausgeht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat dagegen die Aktivität der EZB als mit den europäischen Verträgen vereinbar angesehen.
Banken, Versicherungen und andere Kapitalanleger haben sich auf die umfassende Bürgschaftserklärung Mario Draghis verlassen und kauften die Staatsanleihen der Wackelkandidaten. Die Zinsniveaudifferenzen (Spreads) zwischen Bundesanleihen und risikoreichen Anleihen wurden nahezu völlig eingeebnet. Deren Kurse stiegen entsprechend und bescherten den Käufern massive „windfall profits“, also Gewinne ohne eigenes Dazutun. Doch damit noch nicht genug.
Draghi legte im Frühjahr 2015 ein Staatsanleihekaufprogramm für insgesamt 2,6 Billionen Euro auf und drückte so die Zinsen für Staatsanleihen in der Eurozone unter null. Offizielle Lesart dieser Politik war, eine drohende Deflation abzuwehren; tatsächliches Ziel war, den überschuldeten Euro-Staaten Zugang zu ultrabilligem Geld zu verschaffen. Draghis letzte Amtshandlung war die Wiederaufnahme von Staatsanleihekäufen in Höhe von 20 Milliarden Euro monatlich und die Anhebung der Minuszinsen für Bankeinlagen bei der EZB auf 0,5 Prozent, um die Banken zu einer höheren Kreditvergabe zu nötigen. Die Mitglieder des EZB-Rates aus den stabilitätsorientierten Ländern sahen in diesem Aktionismus keinen Sinn und stimmten dem Paket nicht zu.
Professionelle Beobachter der geldpolitischen Szenerie erwarten von Christine Lagarde, der jüngst gewählten EZB-Präsidentin, die unterschiedlichen Fraktionen im Zentralbankrat zu versöhnen. Was gibt es da zu versöhnen, wenn die einen die Rückkehr der EZB zu ihrem eigentlichen Mandat anmahnen, die anderen sich aber den Zugang zum ultrabilligen Geld nicht nehmen lassen wollen? Die EZB kann nicht zwei Herren dienen; hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, hat die Wahl von Jens Weidmann als Präsident der EZB nicht hintertrieben, damit seine Kandidatin, Christine Lagarde, dessen politische Linie verfolgt.
Sie wird versuchen, für den Zusammenhalt der Eurozone zu werben und die Gegner dieser Politik einzubinden. Allerdings kann sie nicht ähnlich aggressiv wie Draghi vorgehen. Wir vergessen oft, daß diese Politik nicht nur deutsche Bürger um ihr Erspartes bringt und deren Altersvorsorge untergräbt, sondern daß auch französische, holländische und Bürger anderer Nationen darunter leiden. Auf Dauer werden die Geschädigten das nicht mit sich machen lassen. Dafür werden schon die eurokritischen Parteien sorgen.
Die deutsche Bundesregierung wird der EZB-Präsidentin keine Steine in den Weg legen. Wenn der Euro für die Bundeskanzlerin alternativlos ist, dann ist für sie auch der Zusammenhalt der Eurozone alternativlos. Folgerichtig stehen die Anwälte der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht und dem EUGH auf der Seite der EZB. Das wird auch so bleiben. Dafür spricht auch die bevorstehende Personalentscheidung in der EZB.
Ausgeschieden aus dem Direktorium der EZB ist Sabine Lautenschläger. Sie war es wohl müde, ständig gegen Geldschwemme und Nullzinsen anzukämpfen. Sie wird von der Bonner Wirtschaftsprofessorin Isabel Schnabel ersetzt. Finanzminister Olaf Scholz hat sie vorgeschlagen. Da er geldpolitisch nicht versiert ist, wird er sich auf das Urteil seines Chefvolkswirts, Jakob von Weizsäcker, verlassen haben. Dieser kann einer Gruppe von Wissenschaftlern und Experten zugerechnet werden, die die Zukunft des Euro nicht in der Rückkehr zu den Wurzeln der Europäischen Verträge sehen, sondern sich Konstruktionen für die Vergemeinschaftung von Risiken in der Eurozone einfallen lassen.
Einer solchen Gruppe ist auch Isabel Schnabel zuzurechnen. Sie hat an einem Aufruf deutsch-französischer Wissenschaftler mitgearbeitet, der Politikern rät, mutig rote Linien zu überschreiten. Dazu gehört unter anderem eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung für die Eurozone, die aber nicht auf Umverteilung ausgelegt sein soll.
Die Verfasser sagen aber nicht, wie das bei einem Euro gehen soll, der für Deutschland unterbewertet ist, unseren Export ankurbelt und die Beschäftigung hochhält, während er für Mitgliedstaaten der südlichen Peripherie überbewertet ist, deren Exporte dämpft und daher die Einkommen dort niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch hält. Im Europäischen Parlament hat eine solche Institution viele Befürworter.
Mein Fazit lautet: Die deutsche Bundesregierung wird keinen Finger für die Rückkehr der EZB zu geldpolitischer Normalität rühren. Eher können wir auf den beweglicheren Macron setzen, wenn seine Landsleute revoltieren, um ihren Lebensabend zu sichern.
Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom und war Mitglied des Europäischen Parlaments.