Die Worte kommen entschlossen. Doch während er sie ausspricht, kämpft Wong Yik-Mo mit den Tränen. „Lang lebe Hongkong, lang lebe die Revolution“, schließt er seine Rede. Was sich anhört wie eine kommunistische Parole ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Denn der 34jährige kämpft für den Erhalt von Freiheit und Demokratie in seiner Stadt, will verhindern, daß künftig auch in Hongkong der Kommunismus Einzug hält.
„Wir erleben die Einschnitte von Freiheit und Demokratie täglich.“ Im Gespräch mit der JF spricht Mo von Polizisten, die plötzlich Mandarin sprechen. Dabei sei die Sprache Hongkongs doch Kantonesisch. „Warum ist das so?“ fragt er und gibt darauf auch gleich die Antwort: „Weil inzwischen immer mehr Festland-Chinesen in den Uniformen der Hongkonger Polizei stecken.“ Wong bestätigt damit, was die JF (30-31/19) im Sommer aus Hongkong bereits erfuhr: Mit einer hybriden Strategie versucht die kommunistische Volksrepublik offenbar, den „Ein Land, zwei Systeme“-Vertrag von 1997 zu unterlaufen.
Die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ geht auf den ehemaligen Führer der Kommunistischen Partei Chinas, Deng Xiaoping, vom Anfang der achtziger Jahre zurück. Demnach solle es nur noch ein China geben. Hongkong, Macao und auch Taiwan könnten jedoch ihr politisches und wirtschaftliches System beibehalten, während der Rest Chinas weiter kommunistisch beherrscht bleibt. Mit der Rückgabe der einstigen britischen Kronkolonie an China 1997 trat dieses Verfassungsprinzip für Hongkong in Kraft. Erst fünfzig Jahre später, im Jahre 2047, soll es enden. Dann würde auch in Hongkong das sozialistische System Einzug halten.
Immer brutalere Gewalt von Polizei und Schlägerbanden
„Aber schon jetzt verletzt China dieses Prinzip“, sagt Mo. Die Polizeigewalt werde immer brutaler, mutmaßlich von Peking finanzierte Schlägerbanden der Triaden gehen auf Demonstranten los, prügeln wahllos auf sie ein – in der Metro, an Busstationen. „Die öffentlichen Verkehrsmittel werden inzwischen nach Belieben eingestellt. An Demonstrationstagen fahren sie oftmals gar nicht mehr.“ In der an Hongkong angrenzenden Stadt Shenzhen seien inzwischen Tausende Polizisten und Soldaten stationiert. Mo ist sich sicher: Einige von ihnen kommen bereits als Polizisten in Hongkong zum Einsatz.
Auf seinem Mobiltelefon ruft er ein Video auf. Es zeigt ein Wasserwerfer-Fahrzeug, das sich auf Demonstranten zubewegt. Plötzlich schießt eine Fontäne in die Menge der Demonstranten. Doch das Wasser ist nicht farblos, sondern dunkelblau. „Sie haben Chemikalien zugemischt“, erläutert Mo. Damit wolle man offenbar die Demonstranten markieren, heißt es in den meisten deutschen Medien dazu lapidar. „Aber vor allem ist das blaue Wasser gefährlich für die Gesundheit der Demonstranten.“ Zahlreiche Demonstranten hätten dadurch Augenverletzungen erlitten.
Inzwischen herrscht in Hongkong Demonstrationsverbot. „Wir machen trotzdem weiter, jeden Tag finden irgendwo in Hongkong Demonstrationen statt.“ Die großen zumeist an einem Sonntag, kleinere nahezu täglich, verteilt in allen Stadtbezirken. „Es ist immer irgendwo etwas, die Unzufriedenheit mit der Hongkonger Regierungschefin und ihrer pekingtreuen Administration ist groß“, sagt Mo. „Wir brauchen vor allem freie Wahlen. 50 Prozent des Hongkonger Parlaments werden nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern von einer Elite besetzt, die Peking letztlich bestimmt.“ Das hatte der Nationale Volkskongreß Chinas Ende August 2014 beschlossen.
Es war der Auftakt für die ersten großen Proteste in Hongkong, der Startschuß für die Regenschirm-Bewegung. „Ganz am Anfang war ich noch nicht mit dabei“, erinnert sich Wong Yik-Mo an die Zeit vor fünf Jahren. Als die Polizei jedoch mit zunehmender Brutalität und mit Tränengas gegen die Demonstranten vorgegangen war, stieß auch er mit dazu, wurde neben Joshua Wong zu einem der führenden Vertreter der Bewegung gegen die pekingtreue Administration, an der sich mehr als 200.000 Menschen beteiligten.
Sie besetzten die Hauptverkehrsstraßen, campierten mit Zelten auf dem Asphalt rund um die Wolkenkratzer des Regierungsbezirks Admiralty. Eine Protestform, die jedoch auch für Unmut sorgte. Nicht wenige zeigten sich aufgrund der Straßenblockaden sogar verärgert. „Damals hatten sich viele Leute aus der Wirtschaft nicht an den Demonstrationen beteiligt. Heute ist das anders“, erklärt Mo.
Ausschlaggebend dafür war das von der pekingtreuen Regierungschefin Carrie Lam eingebrachte Auslieferungsgesetz, das vorsah, Straftäter in Hongkong auch an die Justiz der Volksrepublik China übergeben zu können. Mit anderen Worten: Unliebsame Protestler, die Hongkongs Regierung als Aufrührer bezeichnet, könnten dadurch schlimmstenfalls Folter oder Tod ausgesetzt sein. Nun waren auch Wirtschaftsvertreter alarmiert. Denn auch sie hätte es treffen können, würden sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Die Folge: Bis zu zwei Millionen Menschen pro Tag gingen im Sommer dieses Jahres auf Hongkongs Straßen, um gegen das Auslieferungsgesetz zu demonstrieren. Einer der Hauptorganisatoren der Proteste: Wong Yik-Mo, der sich inzwischen bei der Menschenrechtsorganisation Civil Human Rights Front Hongkong engagiert. „Wir hatten dort 50 verschiedene Gruppen gebildet, um die Demonstrationen zu koordinieren.“
„Heute geht es um unsere Freiheit, morgen um eure“
Und sie hatten aus den Regenschirm-Protesten vor fünf Jahren gelernt. Permanente Straßenblockaden gibt es nicht mehr. Großdemonstrationen finden vorzugsweise sonntags statt. Während damals Anführer wie Joshua Wong von Hongkongs Regierung als Aufrührer zu Haftstrafen verurteilt wurden, agieren die Protestler heute führungs-, aber nicht kopflos. Offizielle Anführer gibt es keine mehr, dafür unzählige miteinander vernetzte Gruppen, die ihre eigene Guerilla-Taktik entwickelten. Es existiert sogar eine eigene Zeichensprache, mit der sich die Protestler untereinander während der Demonstration verständigen.
„Einiges davon habe ich schon wieder vergessen“, schmunzelt Mo. Der Grund: Seit einem Monat reist er quer durch Europa, hält Vorträge bei Parteien und anderen Organisationen, spricht mit Medien, um auf die Situation in Hongkong aufmerksam zu machen. Paris, Prag, Berlin, Straßburg, Stockholm, Irland. Ein kleiner weißer Rucksack und ein kleiner blauer Koffer faßt sein ganzes Gepäck. Auch im niedersächsischen Oldenburg war er schon. „Auf dem Bundeskongreß der Jungliberalen“, erklärt Mo.
Vor knapp sechs Wochen war auch Joshua Wong in Europa. „Solche Reisen sind für ihn nicht einfach“, schildert Mo. Denn Joshua Wong war im Sommer verhaftet worden. Seine Teilnahme an den Demonstrationen war für die pekingtreue Hongkonger Regierung Anlaß genug, ihn als Aufrührer zu bezeichnen und festzunehmen. Zwar kam der 23jährige auf Kaution wieder frei. „Aber das Gericht hat Auflagen erlassen.“ So dürfe er nicht ohne weiteres nach Europa reisen. „Ausnahmen sind zwar möglich, aber sehr schwierig und langwierig“, erklärt Mo.
Mo spricht Deutsch, hatte früher in Berlin eine Sprachschule besucht. Unter anderem arbeitete er für das deutsche Generalkonsulat in Hongkong. „Momentan bin ich aber Vollzeit-Aktivist“, sagt er. Einkommen hat er nicht. Nur der Kampf für die Freiheit bestimmt derzeit sein Leben. Jene Freiheit, die vielen in Europa gleichgültig geworden zu sein scheint. „Europa muß sich mit Hongkong solidarisieren. Heute ist es unsere Freiheit, die verlorengeht, aber morgen kann es schon die von Europa sein.“ Die wirtschaftlichen Deals, die Europa mit China eingeht, hält er für „dumm“. China werde sich an Verträge nicht halten. So wie in Hongkong.
Und es werde nicht bei wirtschaftlichen Nachteilen bleiben. Auch die Religionsausübung würde man einschränken, wenn Hongkong sozialistisch werde. „China bekämpft zum Beispiel die Kirche und das Christentum. Ebenso andere Religionen, wie den Buddhismus oder den Islam.“ Letzteres lasse sich aktuell besonders in Uigurien, im äußersten Westen Chinas beobachten.
„Immer mehr Hongkonger verlassen deshalb die Stadt und wandern ins Ausland ab. Gleichzeitig siedelt China gezielt linientreue Festland-Chinesen in Hongkong an. Sie machen das so wie schon in Tibet.“
Davor warnt er immer wieder. Er macht das, so lange es möglich ist. Aber natürlich ist ihm klar: „Das geht nicht immer so weiter, irgendwann muß ich aufhören und wieder eigenes Einkommen erzielen.“ Tagsüber hält er Reden auf Veranstaltungen, nachts zieht er sich früh auf sein Hotelzimmer zurück. Er muß arbeiten. Arbeiten für die Freiheit, für die Demokratie. Seine letzte Station in Europa ist Hamburg.
Nach über einem Monat geht es für ihn nun wieder zurück nach Hongkong. „Endlich wieder in die Heimat“, sagt er und freut sich. Doch dann wird er schnell wieder nachdenklich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei der Wiedereinreise nicht verhaftet werde“, bringt er mit belegter Stimme hervor. Wenn er an seinen Rückflug denkt, muß er auch immer an seinen Zwillingsbruder denken. Der ist Pilot bei Cathay Pacific.
Aufgrund der Proteste in Hongkong verlangte China von der Fluggesellschaft, bei Flügen durch den Luftraum Rotchinas kein Personal einzusetzen, das die Proteste unterstützt oder an ihnen teilnimmt. „Ich rechne ständig damit, daß er nun seinen Arbeitsplatz verliert.“ Erste Kündigungen anderer Piloten hat es bereits gegeben. Bisher habe sein Bruder glücklicherweise noch keine Schwierigkeiten. Für Wong Yik-Mo ist dennoch klar: „Ich fliege besser nicht mit Cathay zurück.“